26. November 2007

Repolitisierung

 

 

Autoren, um die sich ein breiter Zitierkanon gebildet hat, erleiden oft das gleiche Schicksal und werden von niemandem wirklich gelesen, aber von allen im Mund getragen. Es wird über die Schulter der anderen hinweg im Zerrspiegel mitgelesen, allenfalls anfangs ein wenig recherchiert und dann der Rest nur noch quer, das Geschriebene ungelesen verstanden als leichte Modifikation in folgenden, allzu konsekutiv gedachten Gedankengängen. Rancière ist das nicht nur womöglich, sondern ausgesprochen gleichgültig. Seine Sorge ist nicht die, was andere mit seinen Texten anstellen. Dennoch ist das Plappern der Papageien nicht im Mindesten der intellektuellen Emanzipation letzter Schluss, sondern Teil der Verdummung.

 

 

 

„Der unwissende Lehrmeister“ ist ein 1987, weit vor dem Beginn Rancières deutscher Rezeption, in Paris publiziertes Buch, in dem die Gleichheit aller, das zentrale Motiv seines Denkens, am Beispiel der im frühen 19. Jahrhundert entwickelten pädagogischen Methode von Joseph Jacotot abgehandelt wird. Aufgrund der eigentlichen Gleichheit aller Intelligenzen, so dieser, kann es sich bei dem herkömmlichen Unterrichtssystem, das klar zwischen Lehrer und subordiniertem Schüler unterscheidet, nur um eines der Verdummung handeln. Vorwurf und Fehler ist die gemeiniglich gegebene Annahme, dass es eine Kluft zwischen Wissenden und Unwissenden gibt, die gefüllt, aber niemals geschlossen werden kann und einzig von Seiten der Wissenden bestimmbar ist. Die Unterlegenheit des Schülers wird damit institutionell abgesichert ins Unendliche verlängert und ihm die Fähigkeit abgesprochen, überhaupt ein Urteil darüber abzugeben, ob diese implizite Zweiteilung an sich nicht zur Disposition steht. Der Lehrmeister ist nachgerade verpflichtet, die Distanz zwischen sich, der weiß, was es zu wissen gibt, und seinen Schülern, die noch nicht einmal ihr Unwissen wissen, aufrechtzuerhalten, um sich nicht in seiner Position überflüssig zu machen.

 

 

 

1818 trat Joseph Jacotot eine Stelle für französische Literatur an der Universität im damals unter niederländischer Krone stehenden Löwen an, sprach jedoch kein Niederländisch. Seine Studenten waren der französischen Sprache nicht mächtig, doch durch eine zweisprachige Ausgabe des Telemach hatten sie ein verbindendes Glied, kraft dessen sie Austausch betreiben konnten. Den Gedanken Rancières folgend steckt in allen Objekten die gleiche Intelligenz, der gleiche Wille, der auch von allen verstanden werden kann, der aber dennoch kein unifizierendes Wissen schafft, sondern eine Reihe von Lektionen zulässt, deren Hierarchie fortdauernd unbestimmt ist. Indem nun die Studenten gezwungen waren, das Gelesene auf Französisch zu rapportieren, lernten sie in auch für Jacotot erstaunlich schneller Weise nicht nur eine ihnen unbekannte Sprache, sondern auch den Inhalt des Buchs. Diese Erkenntnisse konnten sie ganz ohne Lehrmeister gewinnen, der sie nur Dinge gelehrt hätte, über die ihr Wissen defizitär und der autoritären Legitimation bedürftig geblieben wäre. Eine fundamentale Setzung wird damit infrage gestellt, diejenige, ob Erklärungen denn überhaupt notwendig wären, was verneint, und stattdessen ein Unterrichtssystem eingeführt wird, worin er, der Lehrmeister, selbst unwissend ist und damit die Intelligenzen der Schüler im Namen des universellen Unterrichts fordert. Die Rolle des Lehrmeisters beschränkt sich auf die Ermutigung der Schüler zu eigenständigen Aneignungsprozessen, also Übersetzungsprozessen, in denen alle Partizipierenden, kraft ihrer gleichen Intelligenzen, über dieselbe Berechtigung zur Äußerung verfügen und, wiederum auf Gleichheit gründend, auch alles verstehen können. Die von Jacotot erträumte „panekastische“ Gesellschaft der Geschichtenerzähler und Übersetzer, in der die RednerInnen und ihre Reden ohne Unterschied nebeneinander stehen und niemand weiß, was er von den anderen lernen kann, und alle einander unwissende Lehrmeister sind. Das Wissen wird durch diese Modifizierung von einem statisch kanonisierten zu einem sich prozessual veränderndem, in dem nicht erklärt, sondern verglichen wird.

 

 

 

Erfunden hat Rancière das nicht, vielmehr repetiert er den Lesern die Schriften von Jacotot und, um in der Terminologie des Buchs zu bleiben, übersetzt die Texte, die bis hin zu den Überschriften der Kapitel im Buch von Rancière bereits in den Schriften Jacotots angelegt waren. Wenn auch aus dem Dunkel unangeeigneter Geschichte befreit, entfaltet sich die Potenzialität des Buchs erst in Anwendung auf zum Beispiel die Frage nach dem passiv gedachten Beobachter, wie Rancière in seinem Vortrag „The Emancipatet Spactator“ es versucht und damit ein Beispiel der im Buch vorgestellten Methode gibt, das eine, was man schon kennt, auf das andere, Unbekannte zu beziehen. So wenig, wie die Rollen des Lehrers und des Schülers vertauscht oder überhaupt aufrechterhalten werden müssen, geht es ihm darum, den Betrachter auf die Bühne zu stellen, sondern vielmehr um eine Verabschiedung der allzu gern als Prämissen verwendeten oppositionellen Unterscheidung aus Aktivität und Passivität und damit den Beginn der Emanzipation - eine typische Rancière’sche Denkfigur. Alle sind aktive Beobachter und Übersetzer und denken als Aktivum, nicht kontradiktorisch dem Handeln entgegengestellt. Nicht am Ende ist eine Gesellschaft der Gleichheit erreichbar, sondern ebendiese ist Grundbedingung des gesellschaftlichen Prozesses. In einer Gesellschaft, die sich nur als aus Gleichen bestehende selbst denken kann und mit dieser Erkenntnis die institutionalisierten Ungleichheiten und deren haltlose Begründungen zu diagnostizieren in der Lage ist.

 

 

 

Für Jacotot/Rancière ist das Buch als fremdes Drittes zwischen die ihrer Rollen beraubten Schüler und Lehrmeister geschaltet, als Mittel zur Wahrung der Distanz und als gleichzeitig verbindendes Band zwischen den Disputanten, über welches diese ihre Beobachtungen und Reden probend vergleichen können. Nicht diktierte und wiederholte Rede bildet den Kern gesellschaftlicher Reproduktion, sondern ein modulierendes Verhältnis von Übersetzungen und Rückübersetzungen die Basis der Produktion. 1987 erschienen, steht es am Anfang von Rancières Werk und öffnet mit seinen zentralen Gedanken zur Gleichheit, die aus Kontingenzen und Pluralitäten hervorgeht, einer sich repolitisierenden Philosophie die Tür.

 

 

Hannes Loichinger

 

Jacques Rancière: Der unwissende Lehrmeister, Passagen Verlag 2007, 21,90 €

 

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