1. November 2007

Falsche Freunde oder die freundliche Vergewaltigung

 

Von Winfried-Paul Sdun

 

Die freundliche Vergewaltigung in Wort und Schrift findet alltäglich in der Übersetzerpraxis zwischen Sprache A und Sprache B statt. Ein Liebesakt wider willen, die elegant sein wollende Übertragung aus der einen in die andere Sprache. Der  Wunsch einander zu verstehen, führt zu sprachlichen Übertragungskrankheiten, die bei derartigen Transaktionen eben passieren. Musste das Worte so gewählt werden, um verstanden zu werden? Oder hat der Übersetzer die Quellsprache nicht verstanden? Zahlreiche Tücken und Untiefen warten auf den Übersetzer und Dolmetscher. Letzterem mag man es aufgrund seines Zeitdrucks verzeihen. Der Übersetzer hat aber mehr  Zeit, sich zum Beispiel zu fragen: Kann man Arno Schmidt übersetzen?[1]

 

Eine derart offene Frage beantwortet Thomas Bernhard radikaler: „Die Übersetzung ist ein anderes Buch. Das hat mit dem Original gar nichts mehr zu tun. Das ist ein Buch dessen, der es übersetzt hat.“[2]

 

Dann vielleicht lieber doch das Bild vom Übersetzen eines Bootes auf die andere Seite des Ufers mit der Perspektive von der gegenüberliegenden Seite. So sieht man den Text aus der Sicht der anderen Sprache. Goethes Maxime drückt noch die heimatliche Erwartungshaltung aus, „...dass der Autor einer fremden Nation zu uns herübergebracht werde, dergestalt, dass wir ihn als den Unsrigen ansehen können.“[3] Also einverleiben und eben nicht, dass wir uns hinüber begeben. Nun, wir sind aber weitergekommen als Goethe. Wir haben uns selbst bemüht „rüberzukommen“ und erlebt, welche gefährlichen Strömungen auf den Übersetzer lauern.

 

I.        grammatisch – verändernd – mytisch

 

Nehmen wir einen ganz einfachen Roman, sagen wir von Balzac und lesen uns in die Atmosphäre des Pariser Lebens ein. Ist es Krankheit, Mode oder tatsächlich notwendige Übersetzung, die das Verständnis ermöglicht oder Atmosphäre, wenn Madame auch im deutschen Text Madame bleibt?  Der durchschnittliche Leser wird es verstehen, sein Lesefluss ist ungebremst, die intellektuellen Anstrengungen nicht übermäßig strapaziert, aber hat der zu uns herübergebrachte Autor nicht doch ein wenig zu viel seiner Eigenart behalten? Ist Madame in der Anrede nicht auch klar übersetzbar mit „Gnädige Frau“ oder in Verbindung mit einem Namen zum Beispiel mit Frau Dupont? Also doch Mode?  Wo ist die Grenze dieser folkloristischen Effekte einer Übersetzung? Das Bildungsniveau und der Trend der Zeit setzt Grenzen. Monsieur und Madame werden mühelos verstanden, concierge und bouillabaisse schaffen mehr Insider-Atmosphäre und cassoulet ist eben für Fortgeschrittene und Angeber. Braucht die literarische Übersetzung Fußnoten, um tatami, kotatsu etc. zu erklären? Oder wird nur der kundige Leser, der eigentlich auch das Original lesen könnte zufrieden gestellt, weil er wohlig wissend in vertrauten fremden Begriffen badet?  

 

Novalis teilt Übersetzungen schlicht in drei Kategorien ein und trifft damit ins Schwarze: „Eine Übersetzung ist entweder grammatisch, oder verändernd, oder mythisch.“[4] Und er  bewertet letztere gleich als den vollendeten Charakter des individuellen Kunstwerks. Andere sprechen in diesem Zusammenhang schlicht von der Atmosphäre der Sprache, die auch im übersetzten Text entstehen muss. Was Thomas Bernhard mit Musik und Atmung beschreibt, nennt Henri Meschonnic den Rhythmus des Textes: „Der Rhythmus ist die Kritik der Bedeutung, erst der Rhythmuy, dann der Sinn.“[5] Auch  deshalb übersetze man nie Übersetztes in eine weitere Sprache, wer weiß wieviel  Rhythmus und Atmosphäre in der Übersetzung verloren ging. Man erinnere sich an den Streit um die deutschen Übersetzungen Murakamis aus dem Amerikanischen, statt aus dem dem Japanischen. Die im deutschen Text bemängelten Amerikanismen hätten vermieden werden können. Sie hatten mit dem japanischen Original offensichtlich nichts zu tun.

 

Erste Symptome einer Krankheit

 

Übersetzen ist also eine Form der Interpretation, kein stumpfsinniges Übertragen grammatischer Wortgebilde. Man stelle sich vor, französische Briefgrußformeln wortgetreu übersetzen zu wollen. Nicht nur, dass man sich der Lächerlichkeit preisgibt. Der deutsche Empfänger eines wie folgt unterzeichneten Schreibens würde zu recht am geistigen Zustand des Absenders zweifeln und das vorgetragene Anliegen in keiner Weise ernst nehmen wollen: „In dieser Erwartung bitten wir Sie, gnädige Frau, den Ausdruck unserer vornehmen Grüße zuzulassen“ oder „Ich habe die Ehre Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Sie verhaftet sind.“ Die ersten Symptome einer Krankheit sind, wenn der Übersetzer nicht erkennt, wo die wortgetreue, grammatische Übersetzungen ihre Grenzen hat, wo Idiome nur durch Entsprechungen in der Zielsprache zu  e r setzen ist. Filmische Synchronisationen liegen häufig und gern daneben: „Am Fuß der Mauer“  liest Jean-Louis Trintignant nonchalant auf  deutsch und zieht die Zeitung mit dem Titel „au pied du mur“ im „Wilden Schaf“ von Michel Deville aus der Rotationspresse. Das ist natürlich nur wörtlich übersetzter Deutsch-Stuss eines durch fehlende Zeit in die enge getriebenen Synchronisateurs.

 

Mit deratigen Synchronisationen sind wir tatsächlich lost in translation, und auch die wortgetreue Übertragung vieler japanischer Sprachkonventionen kann nur dazu führen, den Leser auf dem anderen Ufer des Sprachflusses zu verwirren. Wer statt Tschüss oder auch bis später die japanische Abschiedsformel itte kimasu wortgetreu  mit Ich gehe und komme wieder übersetzt, zeigt als Übersetzer vielleicht seine wortgetreuen Sprachkenntnisse, allerdings weniger Kenntnisse von Idiomen. Das sind die ersten Symptome einer Übersetzergeisteskrankheit, weil die alltägliche Situation nicht ihrer Entsprechung wieder gegeben wurde oder gerade nicht mehr weiß ind welcher Sprachwelt man sich gedanklich gerade aufhält.

Bill Murray fragt die japanisch sprachsprudelnde Dolmetscherin, ob der übellaunige Regisseur nichts anderes gesagt habe, als „mit Intensität – wie ein Freund in die Kamera“, weil er den unverständigen, erwartungsvollen  wortgetreuen Übersetzungsfreund verkörpert, der die Übertragung des gesamten Wortschwalls der japanischen Quellsprache verstehen möchte, um nicht den Eindruck zu haben, in der Übersetzung verloren zu gehen.[6] Er sollte indes froh sein, dass ihm der Sprachmüll erspart bleibt und sich einfach aushalten, was da in der fremden Sprache abgespult wird. In diesem Fall hat die deutsche Übersetzung in ihrer Suche nach Pedanterie allen Sprachballast abgeworfen. Es mag auch mal umgekehrt sein. Aus japanischer Sicht ist schließlich die deutsche Pedanterie in der Unterscheidung von Maus und Ratte schwer verständlich. Handelt es sich denn nicht um zwei graue, unangenehm nagende Zeitgenossen, die sich lediglich in der Größe unterscheiden? Warum braucht man also zwei unterschiedliche lexikalische Begriffe? Das sind die tückischen Momente, nicht immer leicht, manchmal auch schlicht langweilig, vielleicht sogar sehr wenig mythisch, eher nagend, wenn sich der Übersetzer fragen muss, ob der japanische Autor nun von Maus oder Ratte spricht.

 

II.     Zwang und Freiheit

 

Als Übersetzer ist man also immer im Bewusstsein, der Geisteskrankheit nah zu sein. Neben den handwerklichen Fehlern, die passieren, wenn man auf falsche Freunde hereinfällt oder die wahren Freunde übersieht immer auch sich zurücknehmen müssen, denn der Ruhm gebührt dem Übersetzten, nicht dem Übersetzer!

Walter Benjamin beschäftigt sich mit der gesellschaftlichen Funktion des Übersetzers und spricht von Versöhnung.[7] Lagen wir in unserem gegenseitigen Sprachunverständnis also im Streit und brauchen Versöhnung? Sind es die falschen Freunde, die in die Irre führen sollten. Gerade zwischen der französischen und englischen Sprache gibt es zahlreiche echte Freunde, die  in Schreibweise und Bedeutung einander entsprechen. Das  muss also nichts hinzugedeutet werden, während andere, die sich in der Schreibweise nahezu entsprechen fast keine gleiche Bedeutung haben und nun echte falsche Freunde sind. Wie im richtigen Leben ist entscheidend, dass die wahren von den falschen Freunden unterschieden und erkannt werden.

 

III.   Freundliche Vergewaltigung oder glückliche Ehe

 

Valery Larbaud hat die Übersetzung als literarische Gattung eingeführt und das Verhältnis des Übersetzers zu seinem Autor mit einer glücklichen Ehe verglichen[8]. Die Ausdrucksfähigkeit der eigenen Sprache wird durch die Übersetzung erweitert. Manch idiomatisch nicht übertragbarer Begriff wird angenommen und als eigener empfunden. Konsequent offener Umgang mit Sprache  entspricht dem Umgang mit den Urwerken aller Gattungen der Kunst, ob Musik, Theater oder  Literatur. Wenn Mozart nicht von Mozart, Molière nicht von Molière gespielt und  Brassens nicht von Brassens gesungen wird, spielen und übersetzen Interpreten. Insofern hat auch Thomas Bernhard recht. Die Übersetzung seines Buches soll als solche erkennbar sein[9], und wie Theaterstücke neu inszeniert werden, können und sollen Werke neu übersetzt werden, um in ihrer Zeit verstanden und gelesen zu werden. Was hindert den Übersetzer daran, Balzac auf die heutige Stadtgesellschaft zu übertragen? So wie Übersetzungen der großen russischen Schriftsteller zu DDR-Zeiten eine denkbare Form der Interpretation waren, müssen Übersetzungen von Zeit zu Zeit erneuert werden. Es ist auch an der Zeit, den Übersetzern den Rang von Interpreten zuzubilligen. Der Übersetzer von Thomas Bernhard ist die Anne-Sophie Mutter Mozarts.    

 

War es nun eine freundliche Vergewaltigung oder doch eine glückliche Ehe? Die Annäherung kann mit Dedecius auch einfach sein: „Zuversicht zollt Zinsen, Zank zerfrisst“[10]

 


[1]    Winfried-Paul Sdun: Peut -on traduire Arno Schmidt? Université de Toulouse 1984

 

[2]    Zit. Nach Kultur & Gespenster Herbst 2006 S. 179

 

[3]    Goethe Drei Stücke zum Thema Übersetzen

 

[4]    Novalis Blüthenstaub 1798

 

[5]    Henri Meschonnic Critique du rythme

 

[6]    Lost in Translation von  Sophie Coppola

 

[7]    Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers

 

[8]    Valery Larbaud Sous l'invocation de St. Jérôme

 

[9]    Fritz Güttinger Zielsprache S. 40

 

[10]  Karl Decedcius  Vom Übersetzen – ABC des Übersetzens