16. September 2007

KEHRSEITE I

 

Von Carsten Klook

 

Es war einmal eine Frau, die an einem dicken Eichentisch stand und eine Scheibe Brot von einem Laib schnitt, den sie in der rechten Armbeuge hielt. Breitbeinig stand sie da, als könne sie nichts erschüttern, als ströme aus ihr ewig Milch. Dies ist das Märchen von Robs Traumfrau. "So sollte sie sein", sagte er mir, als ich ihn einmal danach fragte.

 

Nachdem es mit dem Jura- und dem Philosophiestudium nichts wurde, weil Rob alles hinterfragt hatte, was die Professoren erzählten und nichts übrig geblieben war, studierte er viele Jahre weißes Papier. Manchmal saß er stundenlang vor der Schreibmaschine und spannte einen makellos holzfreien DIN A-4-Bogen in die Olympia, den er lange anstarrte und nach einer gewissen Zeit wieder herauskurbelte, um ein neues Blatt einzulegen. Als hätte er das Blatt befleckt mit dem Schmutz, den er dachte, aber nicht zu Papier brachte. Vielleicht dachte er auch nichts, wenn er sich absichtsvoll dem Kampf mit den Worten auslieferte und sein Schweigen in Zigarettenqualm hüllte.

 

"Das Schweigen von Rob darf nicht bewertet werden", hatte seine Freundin, eine Malerin, einmal als Leitspruch an eine Wand gepinselt.

 

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Das war keine gute Idee gewesen, mit ihm reden zu wollen, über ihn, über sich, über uns, über mich, mit ihm zusammen Gitarre zu spielen in einer Band, die über die ersten zwei Takte nie hinauskam, weil er alles notieren wollte und immer Unstimmigkeiten entdeckte, die er, mit dem Fuß auf den Boden stampfend, nicht in den Viervierteltakt integrieren konnte. Oder nicht wollte.

 

Man konnte stundenlang mit ihm in Cafés sitzen und ernsthafte Diskussionen führen, die so anstrengend waren, dass man danach für eine Woche nicht mehr reden wollte. Er konnte mit seiner Starrsinnigkeit alles zersetzen, was ihm ins Gehirn kam.

 

Sein Geld verdiente er damals mit dem Kopieren von Technischen Zeichnungen und Schaltkreisen, die er in einer Elektronikfirma für Röhren zu kleinen Fibeln verarbeitete und im Betrieb herumschicken ließ, weil man es von ihm verlangte. Er war ein Kopist auf der Suche nach seiner Urschrift. Eine unzulässig verkürzte Zusammenfassung. Gegen Ende der achtziger Jahre verließ ihn seine Freundin, weil er sie nie anrief. Wenn sie nicht anrief, meldete er sich wochenlang nicht, bis es der Freundin seltsam vorkam, so als wollte er sie eigentlich von sich aus nie sehen. Sein Problem war, dass es dieses Von-sich-Aus für ihn nicht gab. Er war nicht existent als Auto, Motor, eigener Antrieb. Von ihm aus ging nichts. Gar nichts ging von ihm aus. "Ein vollkommen reaktiver Mensch", sagte seine Freundin, die Malerin, die nach der Beziehung mit Rob einen verlässlichen Melancholiker erwählte.

 

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Für andere konnte Rob arbeiten wie ein Tier. Sich selbst zersetzte er mit Unmengen von Wein und Bier, was ihn manchmal gesprächig werden ließ. Allerdings verfing er sich dann in unwirtlichen Spelunken auf St. Pauli, verlor sich in Gesprächen mit total betrunkenen Randexistenzen, die er zu seinen meist mittellosen Gesprächspartnern auserkor. Dann redete er sogar als Mandant von diesem und jenem, der Gesellschaft, manchmal sogar seiner selbst, anklagend und entsetzt, einsilbig oder kilometerlang. Am nächsten Tag hatte er alles wieder vergessen, verdrängt oder wollte davon nichts mehr wissen. Ein Massengrab.

 

Etwas stand aus. Seine Freunde erwarteten von ihm einen großen Coup, einen Roman, eine Bibel oder ein Kunstwerk ersten Ranges, eine Matrix, die alles in neuem Licht erscheinen lassen sollte. Doch Rob ließ alle Erwartungen an sich abprallen, als hätte er mit der Endloszigarette in der Hand schon genug zu tun an existentieller Erbauung. Ich besorgte ihm einen Job als Korrektor. Kurz nachdem er dort anfing, entdeckte er bei privaten Studien dominosteinartige Silbeneinheiten in James Jocye Roman „Finnegans Wake“. Er übersetzte zwei Kapitel des Buches in mehreren Jahren, übersetzte sie hin und her, vielmehr transkribierte er sie, denn das Buch war aus vielen Sprachen zusammengesetzt, ineinander verkeilt. Er entdeckte einen Geheimcode, nach dem Sprachforscher lange Ausschau gehalten hatten. Er wandte sich an Gesellschaften und Übersetzer, an Institute und Mäzene. Er wurde fast wahnsinnig über diesem Projekt, und es hätte sein großes Ding werden können, wenn irgend jemand an ihn geglaubt hätte.

 

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Rob plante, das 20. Jahrhundert umzuschreiben, den Begriff Gesamtkunstwerk neu zu definieren, die Moderne als großen Irrtum zu entlarven. Aber er blieb allein mit seiner Idee.

 

Noch während er an der Transkription des Textes arbeitete, begann er einen Fulltime-Job in der Redaktion einer Fernsehzeitung und schrieb kurze Inhaltsangaben zu Spielfilmen. Er schmeichelte sich in der Redaktion ein, dass er kaum wieder zu erkennen war. Ein Handschmeichler in jedermanns Hand. Dort lernte er auch eine Frau kennen, die seinen Idealvorstellungen entsprach. Ich habe nie erfahren, ob er sie gebeten hat, sie möge Brot für ihn schneiden, ein paar Scheiben nur, als Test. Es schien die Richtige zu sein.

 

Er legte die Feder beiseite, spielte stattdessen mit seiner Neuen Federball und fuhr mit ihr per Fahrrad ins Grüne. Bei einem Ausflug erkrankte er, die Beine schwollen zu Ballons an. Seine Venen rund ums Herz waren zerfasert. Er landete auf der Intensivstation.

 

Danach erhöhte er den Zigarettenkonsum, heiratete die besagte Frau, wurde Chefredakteur in einer zweiwöchentlich erscheinenden Zeitschrift, zeugte mit der Frau ein Kind und kaufte ein halbes Haus in einem Vorort, 200 Meter von seinen Eltern entfernt. Dies alles erledigte er in einem einzigen Jahr. Als ich das letzte Mal mit ihm telefonierte, wollte er mir seinen Sohn zeigen.

 

"Über einen riesigen Umweg von fünfzehn Jahren", sagte er, "bin ich dahin gekommen, wo andere schon mit zwanzig anfangen."

 

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Vielleicht hatte er seine Matrix gefunden in seinem Sohn. Wer weiß. Ich habe ihn nie gesehen. Und wenn ich ihn mir vorstelle, dann als eine Art Behälter oder Container für den großen Rob.

 

P.S.: Jahre später hatte sich Rob im Betrieb eine hohe Position erarbeitet, indem er mit einem Techniker ein neues Rationalisierungs-Programm entwickelte, das die Abteilung, in der er einmal angefangen hatte, überflüssig machte. Es war so effektiv, dass er es patentieren ließ und an andere Großfirmen verkaufte, Millionär wurde und viele Mitarbeiter überflüssig machte. Dass er damit in jeder dieser Firmen zehn bis dreißig Leute freisetzte und auf die Strasse schickte, war vielleicht Rache an der Welt, die ihm verboten hatte, die Moderne umzuschreiben.

 

Carsten Klook (46) lebt als Autor und Journalist in Hamburg. Zuletzt erschienen von ihm die Hörspiel-CD „Halbe Portion Jubel“ (Gruenrekorder.de) und der Roman „Korrektor“ im Textem-Verlag.

 

 

Freitag 36, 7. 9. 2007