15. Juli 2007

Kultur - ein ganz besonderer Saft

 

Wo auf Buchcovern philosophischer Abhandlungen vor Kurzem noch Gesellschaft, Subjektivität, System oder Identität draufstand, ist nun vermehrt „Kultur“ zu lesen – in allen erdenklichen Kombinationen. Das ist eine auffällige Entwicklung. Dabei steht speziell die Kulturphilosophie unter zweierlei Verdacht. Zum einen steht ihr das Bedenken entgegen, Kultur sei ein zu umfassendes Phänomen, als dass es philosophisch bearbeitet werden könnte, die kulturphilosophische Weltbeschreibung löse Kultur in Philosophie auf und lasse sie mit ihr verschmelzen. Zum anderen ist die Kulturphilosophie dem Vorwurf ausgesetzt, sie ermächtige sich selbst als Metaphilosophie, indem sie als Kulturwissenschaft auftritt und von dieser nicht mehr unterscheidbar ist. Beiden Kritiken stellt sich der Philosoph Ralf Konersmann in seinem Buch „Kulturelle Tatsachen“. „Die Kulturphilosophie will nicht auf eine überlegene oder ,nackte‘ und in diesem Sinne letzte Wahrheit hinaus, sondern auf Manifestationen von Wahrheit“, formuliert der Autor seinen Gedanken. Ausgehend von der kulturellen Wende, die Simmel und Cassirer in der Philosophie einläuteten, geht es Konersmann um das von Menschen gemachte Werk. Simmel versuchte, die eingeschliffene Alternative zwischen dem Blick von außen und dem Blick von innen durch den Umweg über eine Philosophie der Kultur zu vermeiden. Cassirer hob in seinen Schriften stets das Werkhafte hervor. Kultur ist als etwas zu denken, das sich indirekt und auf Umwegen manifestiert, und zwar in den Tatsachen des von Menschen Gemachten. Im Anschluss daran gelangt Konersmann zu seiner „Faustformel“: „Kulturelle Tatsachen sind Werke – Zeugnisse menschlicher Selbst- und Weltverhältnisse, die gegenständlich Gestalt gefunden haben.“ Kulturelle Tatsachen sind jederzeit beides, gemacht und bedeutsam, materiell und ideell, real und konstruiert. „Während der Positivismus den Begriff der Tatsache so aufnimmt, dass humane Bezüge annulliert werden oder ihrerseits als Aggregate dehumanisierter Faktizität erscheinen und während auf der anderen Seite Heidegger aus dem Eindruck der Hermetik der Gegenstandswelt das Motiv der ,Geworfenheit‘ ableitet und damit auf seine Weise den Weg zur Kulturphilosophie blockiert, kommt beim kulturphilosophischen wie auch beim ethnologischen Begriff der Tatsache alles darauf an, die Unvorgreiflichkeit humaner Bezüge präsent zu halten. Kulturphilosophisch gilt: Faktenwelt ist Menschenwelt.“

Die Hierarchie der Wissensgegenstände verwandelt sich somit in ein Meer der Tatsachen. Eine potenzielle Ebenbürtigkeit von Tatbeständen, angebahnt durch die Umstellung von Metaphysik auf Ästhetik. Ästhetische Bezüge lassen die theologische Rückversicherungen hinter sich. Relevanz besitzen Gegenstände nunmehr aufgrund von komplexen Zuschreibungen. Eine kulturelle Tatsache muss nach dem Muster ästhetischer Phänomene als Werk entschlüsselt werden, das seine Bedeutung nur im Austausch mit seiner Umgebung verwirklicht. Kultur fungiert dabei nicht als Metasubjekt, sondern als Potenzial, und da die Philosophie die Kultur, der sie zugehört, nicht überblickt, muss sie sich auf Einzelheiten einlassen, eben auf kulturelle Tatsachen - fait culturel.

Dass dieser Sichtweise keine Verwässerung der analytischen Betrachtung folgen muss, kann man bei Konersmann sehen. In 16 Einzelstudien geht er in diesem Buch mit derselben Geduld und Detailverliebtheit vor wie seine Vorbilder Cassirer und Simmel und entgeht somit jeglicher vereinfachender Systematik.

 

Gustav Mechlenburg

 

Ralf Konersmann: Kulturelle Tatsachen, Suhrkamp Verlag 2006, 406 Seiten, 14 Euro

 

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