27. Juni 2007

Post-Punk

 

Wir mussten die Feierlichkeiten zum 30. Geburtstag des Punk abwarten, bis der viel spannendere Nachfolger überhaupt erst entdeckt wurde: Post-Punk, der eigentliche wilde Westen der britischen Popgeschichte, wird erstmals kartografiert und kanonisiert.

 

Wer den Beginn des Postpunks auf einen Augenblick reduzieren möchte, der könnte diesen wählen: Cardiff, 1979. Stuart Moxham steht mit seiner frisch formierten Band, den Young Marble Giants, auf einer Bühne der walisischen Schwerindustriestadt und spielt einen Gitarrenlauf wie ein Magermodell: wunderschön, aber viel zu dünn. Das Publikum aber mag’s lieber üppig. Jemand ruft: „Play Rock’n’Roll!“ Und nach ein paar Chuck-Berry-Akkorden hält Moxham inne und sagt: „Das kannst du an jedem Abend überall in der Stadt hören. Wir spielen hier etwas ganz anderes.“ Etwas so anderes, dass man dafür keine eigene Kategorie fand, sondern nur die Negation einer alten: Post-Punk.

Der Beginn des Punks wurde oft festgelegt. An verschiedenen Tagen der vergangenen Monate soll die Geburt genau 30 Jahre zurück liegen. Also stand wieder viel zu lesen: vom Spucken (Sex Pistols) und Reinigen (Katharsis), von Helden (Joe Strummer) und Hallen (Roxy, Ratinger Hof, CBGBs). Weniger war zu lesen über die Zeit nach Punk, nach 1977. Als sich die ästhetische Formel etabliert und jeder Rebell einen Plattenvertrag hatte. Erst jetzt zieht Übersichtlichkeit und Kanonisierung ein: „Colossal Youth“, das einzige Album der Young Marble Giants, erfährt als Post-Punk-Monolith eine Luxusneuauflage, und in Amerika pflügt eine Samplerreihe namens „Messthetics“ durch die Unzahl winziger Privatveröffentlichungen aus den Jahren 77 bis 81.

Beide zusammen – „Colossal Youth“ und die Messthetics-Reihe – stecken das Feld ab. Auf der einen Seite ein Album mit einer sehr konkreten Vorstellung davon, was es sein und wie es klingen will. Auf der anderen ein Ozean an entfesselter Kreativität, in dem alles möglich, aber bei weitem nicht alles gut ist.

Zunächst zurück nach Cardiff und den Young Marble Giants. Die bestehen damals aus Stuart Moxham, seinem Bruder Philip, dessen Freundin Alison Statton – und einer scharfen 180°-Kurve. „Alle dort draußen machen so ziemlich das Gleiche“, erinnert sich Stuart Moxham in einem Interview an die Zeit um 1979, „Also war meine Idee: Lass uns einfach in die entgegen gesetzte Richtung gehen und schauen, was man sonst noch machen kann: Ruhig sein etwa, minimalistsch.“ Die Songs, die meistens von ihnen von Stuart geschrieben, sind nicht nur ruhig und minimalistisch, sie sind auch auf larmoyanzlose Art melancholisch und eben dadurch von entwaffnender Schönheit.

Das liegt auch an Alison Stattons Stimme. Die hat nichts Extravagantes, nichts Übertriebenes, doch sie besitzt die schlichte Anmut eines Eisbergs. Und die ergänzt sich perfekt mit den kargen Songs, in denen die Löcher zwischen den Tönen ebenso wichtig sind, wie die Töne selbst. Lieder wie Schweizer Käse. Gebaut aus einer Gitarre, deren Höhen auf 10 gedreht sind. Einem Bass, dessen Noten wie Medizinbälle klingen, die aus großer Höhe auf eine Sommerwiese fallen. Einem Synthesizer, dem man anhört, dass ihn ein Kraftwerk-Fan zusammengelötet hat. Und einer Rhythmusbox, die Töne ausspuckt, die mal klingen wie Helikopterrotoren in Zeitlupe, mal wie zeitgenössische Minimaltechno-Hipster, die sich um einen Analogsound mühen. Zutaten mit denen man im Jahr Drei nach Punk wenig Nachbarn hat. In einer Stadt wie Cardiff, am Eingang zu einer nahezu punkfreien Zone wie Wales, ist man damit alleine.

Wahrscheinlich fallen die Young Marble Giants den wachen Ohren von Geoff Travis bei Rough Trade in London deshalb gleich auf, als sie einen Song auf einem lokalen Sampler veröffentlichen. Travis lässt die Band ein Album aufnehmen. Gerade fünf Tage brauchten die drei unerfahrenen Musiker dazu. Stuart Moxham erinnert sich an nicht mehr als drei Overdubs und 20 Minuten Abmischen. Dann war „Colossal Youth“ fertig, eine der wenigen rundum perfekten Platten dieser Zeit. Kein Gramm Klang zu viel, alles feste musikalische Substanz. 15 Songs, die so weit entfernt sind von Punk wie man es zu dieser Zeit nur sein kann, die melancholisch sind, ohne einen Hauch New-Romantic-Kitsch. Als die Platte Anfang 1980 in die Läden kommt, verkauft sie sich besser als Sicherheitsnadeln bei Vivienne Westwood, und wahrscheinlich wäre Rough Trade viel früher Pleite gegangen, wenn das in den Jahren danach nicht so geblieben wäre.

Nach einer Reihe nie ganz befriedigender Neuauflagen in den 90ern, wird „Colossal Youth“ nun in der definitiven Form wiederveröffentlicht: Als Doppel-CD mit dem reinen, unverfälschten Album auf einer CD und all den Singletracks, Demos und auf der anderen CD Samplerbeiträgen, die den makellosen Eindruck der 15 LP-Stücke trüben würden.

Makellosigkeit? Chuck Warner weiß nicht mal mehr, wie man das schreibt. Der Plattensammler aus Boston, Massachusetts hat sich über die Jahre so tief in den Bodensatz des britischen Postpunk eingegraben, dass kein Porenreiniger ihn mehr reinwaschen kann. Verstimmte Gitarren. Schlagzeuger, für die Takthalter Spießer sind. Bassisten, denen vier Saiten zwei zu viel sind. Bands, die Punk mit Blockflöten spielen und eigentlich doch lieber eine weiße Dub-Reggae-Combo wären. Warner hat all das gehört, weil er alles hören wollte. Als 1982 die „International Discography of the New Wave“, ein 700-seitiges Monstrum aus klein geschriebenen Diskographien, erschien, ging er jede einzelne Seite durch und strich mit Bleistift alles an, was er nicht kannte. 25 Jahre später sind nahezu alle Striche ausradiert.

Davon sei bei weitem nicht alles Punk, sagt Warner. „Manche Leute glauben ja, jede Band um 1978 hätte wie die Undertones oder die Clash geklungen“, sagt Warner. Dabei seien Gitarre-Bass-Schlagzeug-Bands damals in der Minderheit gewesen. „Mindestens die Hälfte der Bands, die damals auftraten, hatten Bläser, Keyboards, ein Akkordeon, eine Geige – irgendein Instrument, das mit der Bilderbuchpunkidee von heute nichts zu tun hat.“ Jede zweite Band hatte keine Lust, dem Drei-Akkord-Imperativ zu gehorchen und wollte lieber ihr eigenes Ding machen: Do It Yourself, DIY. Musikalisch wie ökonomisch. „It was easy, it was cheap. GO AND DO IT!“, riefen die Desperate Bicycles, die vermutlich erste DIY-Band am Ende ihrer ersten Single. Kurz darauf brach der Damm.

An den entstandenen Sumpf wagte sich Jahre niemand mehr. „Punk ist sehr sorgfältig aufgearbeitet worden“, sagt Warner. Ein paar Hundert Compilations kümmerten sich in den vergangenen Jahren darum. „Aber Postpunk ist noch immer unerforschtes Terrain.“ Das ändert sich mit „Messthetics“, Chuck Warners regional organisierter Samplerreihe über die Jahre 1977 bis 1981. Bislang erschienen zwei Teile zur Szene in London und ein dritter über die Midlands. Gut 20 weitere Teile hat Chuck Warner in Planung. Die darauf vertretenen Bands tragen Namen wie Collective Horizontal, Milkshake Melon, Dry Rib oder Digital Dinosaurs und sagen bestenfalls sozial verwahrlosten Plattennerds etwas. Für alle anderen öffnet sich mit diesen CDs eine neue Welt.

Genau das ist auch ihr Ziel. Anfang der 80er Jahre hörte Warner zum ersten Mal einen Sampler mit britischen Pop-Psychedelic-Singles. „Ich hatte von keiner dieser Bands je gehört, aber die Musik war großartig – das war, als würde die Tür zu einem neuen Universum aufgehen. Es wäre toll, wenn ‚Messthetics’ für ein paar Menschen das gleiche erreichen könnte.“ Schließlich versickerten viele dieser privaten Veröffentlichungen im näheren Umfeld der Bands, wurden nie von mehr als ein paar Hundert, manchmal nur ein paar Dutzend Menschen gehört.

All das wäre pop-archäologisch honorig, aber sonst nicht weiter bemerkenswert, wenn die exhumierte Musik nicht so famos wäre. Die meisten der Messthetics-Bands hängen in der stilistischen Netherworld zwischen Punk und New Wave, Powerpop und Psychedelia. Und diese Mischungen lassen all die reglementierten Punkbands der Jahre zuvor erschreckend einfallslos klingen. Da sind etwa die Homosexuals, die so gekonnt Soft-Boys-Melodien auf Buzzcocks-Refrains prallen lassen, dass sie jede Menge hübscher Funken schlagen. Oder Twelve Cubic Feet, die den schüchternen Jingle-Jangle-Twee-Pop mit Frauengesang der C86-Generation schon vier Jahre früher vorweg nahmen. Oder besagte Collective Horizontals, die 1979 so düster-verstörende Synthesizersongs spielten, dass Berlins Tödliche Doris sich hier ein bisschen was abgeschaut haben könnte. Das hört sich nicht nur abwechslungsreich an, das ist auch sehr kurzweilig. Ebenso wie Chuck Warners investigative Linernotes, die reichlich Querverbindung und Hintergründe offenbaren. So wird der demnächst erscheinende vierte „Messthetics“-Teil („South Wales D.I.Y. and the Z-Block label“) auch ein Stück der Boywonders enthalten, der Band von Stuart Moxham kleinen Bruder Andrew.

Leicht könnte man den Fehler begehen und Chuck Warner einen Plattensammler mit missionarischem Eifer nennen. Schon alleine, weil der Mann tatsächlich für die Episkopalkirche arbeitet. Dabei hat Warner eigentlich viel größere Absichten. „Ich sehe mich heute weniger als Sammler, sondern eher als Kurator, der die besten Stücke eines versunkenen Schatzes rettet und einem neuen Publikum präsentiert.“

 

Gregor Kessler

 

 

Young Marble Giants, „Colossal Youth“, Doppel-CD, ist am 2. Juli bei Domino erschienen.

amazon

 

„Messthetics“ können über Chuck Warners Homepage www.hyped2death.com bestellt werden.