22. Juni 2007

Dissonante Biografie

 

„Autofiktion“, so nennt man in Frankreich jene seltsamen Bücher, die beides zugleich scheinen: Autobiografie und Roman. Weder das eine noch das andere, könnte man auch sagen. Konsequent genug, schließlich neigt nicht nur der Romanleser gemeinhin (oder sollte man schon sagen: krankhaft?) zur biografischen Spekulation. Nein, vor allem die Fabrikation durchaus romanwürdiger Plots aus den Banalitäten, Zufällen und Widrigkeiten des Alltags braucht nicht erst die theoretische Anerkennung durch post- oder postpostmoderne Ansätze der Autobiografieforschung (die sich freilich nie wirklich von der fixen Idee verabschieden wollte und will, in der Selbstbiografie irgendwelche „authentischen“ Stimmen zu erhorchen).

Eines der wohl weitest entwickelten Modelle stammt aus der Romantik des frühen 19. Jahrhunderts: E.T.A. Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr. Dieser gelehrte Katz weiß schon ganz genau, wie man sein Leben erfolgreich zusammendichtet, was hinein gehört, was nicht – und wie das, was unpassend scheint, kurzerhand passend gemacht wird. Und sein Autor Hoffmann wiederum kennt präzis die Tricks, die nötig sind, um die Dissonanzen in dieser souverän komponierten Musik der Selbstbewunderung hörbar werden zu lassen.

Ein Spiel der Dissonanzen ist es auch, das die Autofiktion bestimmt. Im besten Falle hebt sie das ab von anderen, derzeit aus allen Kanälen dröhnenden, Zwitterprodukten der Güteklassen „Dokufiction“ oder „Reality Soap“. Einen dieser besten Fälle hat nun Barbara Bongartz mit ihrem neuen Roman Der Tote von Passy geliefert. Ein Buch, dessen Fakten, wie die Autorin betont, gewissermaßen als autobiografisch gesichert gelten müssen. „Roman“, nennt sie es trotzdem, und man hätte schlechte Gründe, dahinter ökonomisches Kalkül zu vermuten. Welche Ökonomie, bitte, sollte das auch sein? Ein Roman allerdings, dessen Heldin den Namen ihrer Autorin und die Eckdaten ihrer Biografie übernommen hat. Oder, wie der Erfinder des Begriffs „Autofiktion“, der Schriftsteller Serge Doubrovsky es auch nennt: eine „gefälschte Fiktion“.

Für Barbara Bongartz ist das offenbar weit mehr als ein formales Experiment oder ein Spiel der Mystifikationen. Schließlich klaffen in der erzählten Biografie die Lücken so weit, dass man ohne ein bisschen Roman, ohne ein bisschen Fantasie kaum weiterkommt. Es beginnt mit einem seltsamen anonymen Brief, durch den die Erzählerin nach Paris, genauer: nach Passy geladen wird, um dort dem Begräbnis eines Alphonse Steiner beizuwohnen, der angeblich ihr Vater gewesen sei. Und obwohl sie ja einen Vater hat, einen unangenehmen allerdings, zu dem sie jeden Kontakt meidet, fährt sie nicht nur los, sondern lässt es sich auch nicht nehmen, zum Leichenschmaus ins Haus des Verstorbenen zu fahren, sich dort ausgiebig umzusehen, sich vorzustellen, ihn zum Vater zu haben.

Denkbar wäre das natürlich: War nicht die Mutter in den fünfziger Jahren immer wieder allein auf Reisen? Hätte sie nicht in Nizza sehr wohl dem vornehmen Herrn Steiner begegnen können? Warum leugnet sie denn, darauf angesprochen, so verräterisch vehement, seinerzeit im Luxushotel Negresco abgestiegen zu sein? Zumal die dortige Verwaltung auf Nachfrage der Tochter gern bestätigt, wann exakt Mutter Bongartz im Hotel abgestiegen ist. Zeitlich passen würde es. Atmosphärisch sowieso: Der Roman mit Sommerliebe, Ehealltag und untergeschobener Tochter schriebe sich wie von selbst. Eigentlich braucht es allerdings weder die Dementis der Mutter noch die Entdeckung, dass es ein Jugendfreund war, der der Erzählerin den geheimnisvollen Brief geschickt hat – ein kurioser Scherz. Denn dass sie adoptiert ist, weiß sie eigentlich längst. Es bräuchte zum möglichen Vater also auch gleich noch eine mögliche Mutter. Die Spur nach Nizza führt mitten hinein in eine Geschichte, eine unmögliche allerdings. Wer sagt auch, dass man sucht, um zu finden? Und was zu finden? Eine leibliche Mutter zum Beispiel. Die taucht in der zweiten Hälfte des Romans auf und hat wenig Abenteurertum im Angebot. Und nur ein neues Rätsel, was den Vater angeht.

Barbara Bongartz’ Autofiktion ist alles andere als Selbstentblößung. Es ist eine ausgefeilte literarische Komposition mit gekonnt gesetzten Dissonanzen. So scharf und präzise Konstruktion und Sprache des Romans sind, so irritierend sind die hineinzitierten Genreversatzstücke: Da gibt es etwa eine geheimnisvolle Französin, die der Erzählerin ein Foto des angeblichen Vaters zusteckt und sich in vagen Andeutungen gefällt. Eine Garderobiere, natürlich. Dann den plötzlich auftauchenden Jugendfreund und seinen Bekannten, den Ermittler Frieder Graf, der direkt dem Primetime-Krimi entsprungen scheint. Und schließlich allerhand merkwürdige Korrespondenzen und Vorahnungen: Wieso etwa wird sie von einer Unbekannten im Zug als Südfranzösin identifiziert – lange, bevor sie erfährt, dass ihr Vater tatsächlich (oder doch: angeblich) aus dem Midi stammt? Und wieso hat sie ihren Namen eigenwillig in „Barbara“ korrigiert, ohne zu wissen, dass dies der Name war, unter dem ihre leibliche Mutter sie eintragen ließ?

Bedeutung haben diese Dinge nicht, Bedeutung wird ihnen gegeben, indem sie literarisch gewendet und verknüpft werden. Und das Leben wird zum Roman, nicht erst, wenn am Ende des Romans die Erzählerin genau in jener Gegend landet, aus der ihr Vater stammen soll. Zufällig natürlich. „Was für ein Zufall. So etwas gibt es nur in der Wirklichkeit.“

 

Jan-Frederik Bandel

 

 

Barbara Bongartz: Der Tote von Passy, Dittrich Verlag, Berlin 2007

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

amazon