12. Juni 2007

Die schöne Fahne

 

Man kann ihn sich gut als Rechtsanwalt vorstellen (und nicht nur als Adorant von nun schon zwei Päpsten), wie er seinen Schützling (Céline) nicht nur verteidigt, sondern die Rollen verkehrt und seinerseits Anklage erhebt, gegen „die Gesellschaft“ und den Literaturbetrieb, zu dem er gleichwohl selbst gehört, Philippe Sollers. Die Literatur, die wahre, echte, ist für Sollers immer gefährlich, weil kompromisslos, gegen das „Spektakel“ der Gesellschaft gerichtet, und sie könne das, was kein Geschichtsbuch und kein Dokumentarfilm vermögen, nämlich hinter dem Schein das Sein aufzeigen. Dieser Anspruch ist vielleicht nicht sonderlich neu, aber unter den literarischen Zeitgenossen ist Sollers vermutlich der getreueste und lauteste Handlungsreisende dieses Literaturverständnisses, was nicht ausschließt, dass er selbst als Autor von Romanen ihm kaum entspricht, zu sehr ist er Epigone derer, für die er sich als Kritiker ins Zeug legt. Zu Céline hat Sollers von Beginn an (ab 1960, Start von „Tel Quel“) Stellung bezogen. Wenn es nur nach ihm ginge, wenn also die unbequeme Witwe nicht wäre, könnte man schon lange auch die „Bagatelles pour un massacre“ und die anderen antisemitischen Pamphlete in der edlen Dünndruck-Klassikeredition der „Pleïade“ lesen, denn die „Bagatelles…“ sind für Sollers ein „Meisterwerk“, zwar „épouvantable“, aber doch ein „entsetzliches“ Meisterwerk (nachzulesen in Sollers’ Tagebuch des Jahres 1998, „L’Année du tigre“). Bereits 1992, in dem ziemlich weihrauchdurchtränkten Interviewband „Le rire de Rome“, gibt Sollers gewissermaßen Entwarnung bezüglich der „Bagatelles…“. Diesen sehr französischen Katholizismus etwa von Sollers kann man ja nur zur Kenntnis nehmen, verstehen wird man das nicht, dieses Spiel muss man mitspielen oder ganz sein lassen. Wie unerträglich das also im Ganzen ist, Sollers ist für die eine oder andere interessante Beobachtung immer gut. In diesem Zusammenhang liest man im Gespräch mit Frans De Haes folgendes: „Man tut so, als ob Céline ein ideologisches Problem darstellen würde. Aber für mich – und ich lege Wert darauf, diese skandalöse Behauptung zu machen – gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Bagatelles pour un massacre und der kleinsten Papiercollage von Picasso.“ (Meine Übersetzung) Natürlich weiß Sollers, dass man das so nicht sagen kann, aber er spielt im Betrieb mit, und er tut es auf seine Weise. Was Sollers mit diesem Satz nicht sagen will, ist, dass Picasso Antisemit sei. Die Folie ist aber auch nicht die Collage als bloß formales künstlerisches Prinzip, auch wenn man mit ihr dem Fluchtpunkt von Sollers sehr nahe gekommen ist. (Gleichwohl ist es hilfreich, die „Bagatelles…“ einmal tatsächlich als zusammengestoppeltes Werk präsentiert zu bekommen und nicht, oder nicht nur, als unreflektierten, „dummen“, Hasserguss eines delirierenden Subjekts.) Was Sollers an Picasso (einer seiner „Götter“) schätzt, ist, speziell im Fall der Collage, dass hier jemand als „Subjekt“ nur noch insofern habhaft zu machen ist, als er/es für die Zusammenstellung von etwas anderem verantwortlich ist. Der Arrangeur tritt zurück und lässt nur noch die „Details“ sprechen. So landet man, nach dem emphatischen Kunstverständnis von Sollers, im „Herzen der Zeit selbst“. Der entscheidende, über Céline und Picasso hinausgehende Abschnitt lautet: „Den menschlichen Wesen sagt man, dass sie in einer wichtigen, bestimmten Zeit leben, die generell auf dem Kampf zwischen dem Guten und Bösen basiert, einer Geschichte, die ihrem Leben Sinn gibt, geben wird… wenn sie klug sind! Die subversive Bejahung, die man wagen kann, ist: Stellen Sie sich jemanden vor, der nur von den Details, die ihn umgeben, sprechen würde und der damit eben die wahre Version dieser Geschichte gäbe… Dabei wird einem sofort schwindlig!“ Man sieht, dass das Prinzip Collage (die Details) kein Spielplatz für Bastler ist. Hier geht es um alles. Also um die echte Geschichte, also den Wiedereintritt des Realen in die (schale) Wirklichkeit. Die subversive Tat Sollers’ mit Blick auf die „Bagatelles…“: Hier schreibt kein vereinzelter Autor seine Befindlichkeit auf; hier hat jemand fleißig gesammelt, neu zusammengesetzt, und was dabei herausgekommen ist, ist nichts weniger als der Heilige Geist der Epoche, die sich inkarnierende List der Vernunft, auf jeden Fall kein Text eines späteren Sündenbocks, denn die Funktion hatte Céline für Frankreich, als es begierig nach der reinen Weste griff. Ja natürlich, Nietzsche, amor fati, aber reicht das als Hintergrund aus, um genau diese Details für die erlauchte Erleuchtung abzusegnen? Trotz Details geht es hier ja doch wieder um einen seltsamen Substanzialismus, aber dieser hat nichts Positives mehr, Céline bringt ein prinzipielles Desaster ins Spiel, die Todesnähe von allem und jedem. Die Frage, wer Céline war, bleibt also unbeantwortet, vielleicht auch unbeantwortbar, etwas anderes, Größeres, spricht für Céline, in beiderlei Bedeutung. In dem Essay- und Interviewband „Improvisations“ (1991) überträgt Sollers dieses Schema, das der Collage, das der Details ohne sinngebendes Zentrum, auf Célines so genannte Deutschland-Trilogie, also „Von einem Schloss zum anderen“, „Norden“ und „Rigodon“. Nichts weniger als die „Neue Apokalypse“ würde sich dort zu lesen geben. Céline sei seines Wissens der einzige gewesen, der dem Zweiten Weltkrieg und der Zeit danach ihre Sprache gegeben habe. Der Preis dafür? Ein „Standpunkt außerhalb der Welt“. Dieser Standpunkt erlaube dann, die Welt – welche auch immer – zu enthüllen als „Horror“, „Ekel“, „Niedertracht“ und dass in ihr, noch vor jedem Konflikt, der Tod herrsche. Wie schwer eine solche Sicht durchzuhalten ist, zeigt Sollers selbst, wenn „Céline“ sich als etwas mehr als eine Ansammlung von Details entpuppt. Man kommt dann doch wieder auf die „Knoten“ (im Lacan’schen Sinn) zurück, auf jemanden, der da sein Delirium durchquert und „komplett mit der politischen Vision bricht mitten im Herzen des politischen Deliriums“ (Sollers spielt hier auf die Flucht Célines durch Deutschland an, das des Nationalsozialismus). Die Quintessenz von Sollers befriedigt nicht richtig, vielleicht weil er sich „nur“ für die Literatur so ins Zeug legt: Céline habe die fundamentale Erfahrung Shakespeares wiedererlangt, nämlich den Bruch mit der menschlichen Gemeinschaft, der, wie bei Artaud, mit einer pathetischen Einsamkeit endet. So macht man die Leute ungreifbar, unangreifbar. Die „Bagatelles…“ mögen Collage sein, aber sie sind noch etwas anderes, sie bleiben der Skandal, den Sollers niemals übertreffen wird.

 

Dieter Wenk (05.07)

 

Philippe Sollers, Improvisations, 1991 (Gallimard)

Philippe Sollers, Le rire de Rome, 1992 (Gallimard)

Philippe Sollers, L’année du tigre, Paris 1999 (Seuil)