26. Mai 2007

Oktavauszüge

 

Wenn John Cage gut viereinhalb Minuten am Klavier sitzt, ohne die Tastatur zu berühren, und der Zuhörer sich endlich traut, ihn zu fragen, wann es denn nun losgeht, und John Cage leise den Kopf dreht und sagt, dass es das schon war, dann weiß der Zuhörer, und auch Cage, dass man aneinander vorbeigehört hat. Oder diesmal ein Betrachter, der vor einem der Schlitze von Lucio Fontana steht, was sieht er da. Oder der Blick auf ein patentiertes „IKB“. Ein Erlebnis? Oder eher nicht? Hören wir noch einmal Klavier, diesmal wird wirklich gespielt, gis, g, ais, h. Töne, die jeder kennt. Vielleicht nicht in dieser Abfolge, aber selbst wenn. Man kennt sich in den zu erwartenden Reaktionen der anderen nicht aus. Diesmal ist es ein Schriftsteller, der diese vier Noten nachspielt, Louis-Ferdinand Céline, es ist sein Madelaine-Erlebnis, vier Noten als Speicher eines fürchterlichen Erlebnisses, wer hätte das gedacht, aber glauben muss man es ihm, „Hannover unter den Bomben“ des Zweiten Weltkriegs, also auch eine Art „Todesfuge“, moderne Dichtung funktioniert nicht viel anders, es steht immer ein Delirium hinter den Klängen und Silben, irgendeine Katastrophe, und meist braucht es ein drittes Auge oder das absolute Gehör, um dort zu sehen oder zu hören, wo jemand eine Anstrengung unternommen hat, eine Verbindung herzustellen, die unmittelbar als Kunstprodukt erst mal unsichtbar und unhörbar bleibt. Und sind nun diese seltsamen Objekte, Klänge, Silben das „missing link“ oder sogar schon der Versuch einer Restitution des missing link? Wer Ohren hat, der höre, das ist leicht gesagt, die Herren oder Damen Ironiker, nicht alles ist für alle da. Hat man es also mit Wahnsinnigen zu tun (Proust, Céline…), oder handelt es sich, wie Philippe Sollers vermutet, um das Hüten eines Geheimnisses? Die vier Noten, ein Beweis? „Céline ist der einzige“, so der Ohrenzeuge Sollers, „der beweisen kann, dass er den Bombardierungen Deutschlands wirklich beigewohnt hat.“ Philippe Sollers wird nicht müde, auf die „fürchterliche Macht“ der Literatur aufmerksam zu machen. Die Wirklichkeit geht vorbei, Hannover ist wieder aufgebaut, aber in diesen vier Noten, gis, g, ais, h, ist das ganze Grauen versammelt, das in diesem unscheinbaren Ensemble nicht müde wird, immer und immer wieder zu ertönen. So das Programm einer neuen Mythologie der Literatur. Die Versetzung der Zeit, mittels eines minimalen metaphorischen Kraftakts. Vielleicht muss man katholisch wie Sollers sein, um so vorbehaltlos diese Vorstellung eines inkorporierenden Details artikulieren zu können. Vom Typ „Aufschreibesystem“ geht das wieder in Richtung 1800, aber gleichzeitig ist Sollers natürlich inspiriert von Mallarmés Diktum, die Welt sei dazu da, in einem Buch zu enden. In diesem Zuge lässt sich jedenfalls Céline auch gleich reinwaschen, ohne dass es nötig war, vorher ein paar Argumente auszutauschen: „Die Frage läuft nicht mehr auf das Gute oder das Böse, das Verifizierbare oder das Erfundene hinaus, sondern auf die Saite selbst des Realen. Wer war da? Wer lebte? Wer hatte Augen, einen Atem, Ohren?“ Man muss überhaupt nicht Sollers’ literarische Metaphysik mitmachen, um anzuerkennen, dass Céline ein Komponist und Musikant ersten Ranges ist. Man kann aber sehr wohl zu einem Ergebnis kommen, das überhaupt nichts Geheimnisvolles hat, sehr wohl aber verstörend wirkt: Nur weil Céline Antisemit war, trieb er sich in Deutschland herum und legte Zeugnis ab von dem, was er sah. Das lässt sich sehen und hören. Aber was ist Célines Radio-Aktivität ohne einen gescheiten Empfänger?

 

Dieter Wenk (04.07)

 

Philippe Sollers, Céline au clavier, in : Sollers, La guerre du goût, Paris 1994, 340-345