24. Mai 2007

Mit System, ohne Verstand

 

Dieser Text – er zählt gerade einmal zwei Seiten – stammt aus dem Jahr 1963 und ist somit der mit Abstand früheste aus Sollers’ Essay-Sammlung „Théorie des Exceptions“ von 1986. Wie auf viele andere seiner Lieblinge wird er auf Céline immer wieder zurückkommen. Und immer als Lobredner. Er hat sich anstecken lassen von diesem Stilisten erster Ordnung: „Er hat im Französischen eine unerhörte Rhythmik erfunden. Ist das nichts?“ Viele haben auf diese Frage geantwortet: Ja schon, aber… Dass Céline „ziemlich verrückte Ansichten“ vertrat, muss man Sollers natürlich nicht erst beweisen, denn das sei „evident“. Sein Antisemitismus ist „,unverzeihlich“’. Nur wenige würden allerdings wie Sollers mutmaßen, warum Céline sich so sehr exponierte. Jene „Evidenz“ scheint ihm nämlich derart, „dass man einen überzeugten Angriff vermuten kann“. Aber worauf, denn die Juden können hier ja nicht mehr gemeint sein. Sollers antwortet – fast könnte man sagen: selbstverständlich – mit einem Zitat, und zwar eines anderen Lieblings: Rimbaud: „,Stellen Sie sich einen Mann vor, der sich Warzen im Gesicht implantiert und diese pflegt.’“ Auch wenn es schwer fällt, so etwas zu akzeptieren, vielleicht muss man wirklich so weit gehen. Das Lachen Célines ist ein einsames, es ist ein Verlachen, ein Verhöhnen, meist sind es natürlich die anderen, die demaskiert werden, die noch in ihrer Größe vor allem lächerlich sind, aber was ist Célines Procedere anderes als Warzenpflege. Die Welt als Warze und Stil. Céline integriert sich mitten hinein in die Katastrophe, die die Welt ist. „Der historische Alptraum, den wir erleben“, so Sollers, „hat in ihm [Céline] seinen einzigen genauen Chronisten gefunden.“ Romane wie „Von einem Schloss zum anderen“ und „Norden“ scheinen Sollers „überlegener“ als sogar Célines Erstling, die „Reise ans Ende der Nacht“. Seine Bücher würden bleiben, nämlich als „die einzigen tiefen, verängstigten Spuren des modernen Horrors“. Was Céline als isolierte Person und isolierten Autor weniger schuldig mache als so manchen der Gekrönten oder der Platzhirsche, das sei seine Weigerung, „lauen Kommandos nachgegeben zu haben“ oder als Pseudomoralist aufzutreten. Und noch einmal nimmt Sollers Céline in Schutz, versucht, sich einen Reim auf die Abdankung des Denkens zu machen, auf die „freiwillige Verengung des Geistes“: Er, Céline, habe die „Aufmerksamkeit auf die Syntax legen wollen. Sein Blick ist untrüglich, von einer Durchdringung, die er seinem Verstand verweigert.“ Das ist natürlich sehr französisch – soll man sagen: gedacht? Als ob man immer noch die Schubfächer Racines aufziehen würde. Céline ist in der Tat auch kein Dialektiker. Aber muss einen das notwendigerweise gleich dümmer machen? Célines so genannte Deutschlandtrilogie ist ja alles andere als dumm. Ist es sein Antisemitismus? Oder seine Pamphlete? Doch sogar die noch operieren auf mehreren Ebenen. Und man muss sich fragen: Warum sind diese Schriften so lang? Sollers schließt mit einer doppelten Würdigung: Er begrüßt in Céline einen „unbeugsamen Mut“; und er bedauert seine Nachahmer. Zwanzig Jahre später, 1983, legt Sollers seinen Roman „Femmes“ vor. Bedauernswerterweise?!

 

Dieter Wenk (04.07)

 

Philippe Sollers, Le rire de Céline, in : P.S., Théorie des Exceptions, Paris 1986