22. Mai 2007

Flug ohne Buchung

 

Das Kino ist in dem Moment erfunden worden, als der erste zu Tode Verurteilte sein ganzes Leben in der letzten Sekunde seines Leben noch einmal Revue passieren lassen durfte, ganz nebenbei auch der erste „acte gratuit“. Da aber der Sterbende von seinem letzten großen Erlebnis nicht selber berichten konnte, brauchte es ziemlich lange, bis das Kino auf anderen Wegen die Bilder dann auch für andere vor Augen stellte. Jedes Kinoerlebnis fordert vom Betrachter einen kleinen Schlaf, damit nicht die Gesamtpersönlichkeit sich zwischen Auge und Leinwand wirft, um unangenehme Fragen zu provozieren. Im Dämmer klopft manchmal ein durchgeschlüpfter kritischer Geist an, aber schnell jagen wir ihn wieder weg. Wie froh ist man, als Yella nach einem fürchterlichen Autounfall aus der Elbe kriecht, wie eine etwas benommene Nixe. Gerade wo man angefangen hatte, mit dieser etwas seltsamen Person Bekanntschaft zu machen. Ein so früher Tod im Kino, das wäre gegen jede Regel. Aber ein bisschen reiben wir uns trotzdem die Augen darüber, dass irgendwie rein gar nichts passiert zu sein scheint, keine Schramme, kein Humpeln, wenn sie dann aufsteht, und dann stehen da wie abholbereit ihre Sachen direkt am Ufer, die sie mit nach Hannover mitnehmen wollte, wo sie einen Job antreten sollte. Yella muss sehr pflichtbewusst sein, denn statt nach Hause zu Papa zu gehen und sich nach dem Unfall erst mal auszuheulen, sieht man sie am Bahnsteig, der Zug scheint nur noch auf sie gewartet zu haben, Gott sei dank ist das Abteil leer, ein paar nasse Klamotten zieht sie aus. Ein dezenter Fahrkartenkontrolleur zieht sogar die Vorhänge zu, will gar nicht die Karte sehen. Im Hotel am Eingangsbereich geht es ein wenig wie im Märchen zu, das viele Geld von Papa, das Yella unverhoffterweise aus einer Kalamität hilft. Und dieser nicht unattraktive Mann, der sich wie ein guter Geist ankündigt. Sieht ihrem Ex übrigens sehr ähnlich. Ihr eigentlicher Job kommt erst gar nicht in die Gänge. Warum? Hat das mit dem netten Typen zu tun? Mit dem sie eigentlich viel lieber zusammenarbeiten würde? Dann taucht letzterer in ihrem Hotelzimmer auf, sie hatte ja die Tür nicht zugemacht (so was passiert natürlich ausschließlich im Kino und …). Der Mann ist ein free-style-Unternehmer, aber er bräuchte da jemanden bei einer Verhandlung. Ob Yella Interesse hätte? Am nächsten Tag schon sind die beiden ein perfektes Team. Dream-Team, wie man so schön sagt. Der Mann bittet sie noch einmal, und dann noch einmal, eine wunderbare Wiederholung dieser Situation, wirklich gebraucht zu werden und nicht aufgrund eines jämmerlichen Vertrags ein peinliches Verhältnis eingegangen zu sein. Während der ganzen Hotelsituation taucht immer wieder Yellas Ex auf, ziemlich gespenstisch, manchmal brutal. In einer solchen dramatischen Szene gelingt der amouröse Wechsel zu ihrem jetzigen, na ja, Partner. Yella lernt schnell, sie übernimmt selbst Verhandlungsinitiative, sogar in dem etwas dubiosen Genre ihres Partners, der seine Gegner gerne über den Tisch zieht, weil er noch besser als sie zu bluffen versteht. Hierzu gibt es eine ganz reizende Szene, wo die Grenze zwischen Publikum und Filmpersonal wie ausgeräumt erscheint. Yella also wird richtig hart, natürlich verdankt sich ihr Verhalten auch dem Spruch der Liebenden, die für ihren Freund alles machen, auch den Gang über die Leiche. Eine ganz enorme Irritation überfällt den Zuschauer dann bei einer solchen Verhandlungssituation, bei der der Erwartete zwar schließlich auftaucht, aber doch unter Umständen, die einer solchen Situation nicht angemessen ist. Yella scheint mehr zu wissen als wir, sie eilt an einen Ort, der schon früher im Laufe des Films auftauchte, aber da gewissermaßen etwas aus dem Verlauf geraten, sie stellt dort seltsame Fragen, und wir müssen bald zugeben, dass sie das dritte Auge hat. Und dann scheint der Film noch mal von vorn anzufangen, nicht ganz von vorn, aber doch kennt man das, die Fahrt über eine Brücke, man weiß, was jetzt passieren wird, und jetzt verstehen wir auch, dass Christian Petzold Yella die Richtung hat wechseln lassen. Aber welche Richtung? Und wie hieß diese andere Brücke gleich noch mal? Brücke von St. Louis Rey?

 

Dieter Wenk (02.07)

 

Christian Petzold, Yella, D 2007, Nina Hoss, Devid Striesow