22. Mai 2007

Kokettieren vor der Neuen Welt

 

Vielleicht haben sie ihr sogar dankbar zugelächelt, die Studenten in Yale und Columbia, als die französische Literaturwissenschaftlerin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva ihnen von der Aktualität Célines sprach. Nicht die Probe aufs Exempel machend, sondern schon die Landläufigkeit avancierter französischer Text- und Kulturtheorie in Sachen „Überschreitungspraktiken“ voraussetzend (man schreibt das Jahr 1976), hebt Kristeva also ganz selbstverständlich an: „Dieser Vortrag wäre auch als ein Romanausschnitt Célines denkbar…“ Immerhin, das erspart eine ganze Menge an Lektürepensum. Dem Nicht-Amerikaner fällt es gleichwohl schwer, das ganz unironische Bekenntnis der Professorin durchgehen zu lassen. Als ob Kristeva die Anmaßung oder Frechheit ahnen würde, lässt sie den Satz weitergehen: „…, wenn sie ihm die karnevalistische und apokalyptische Vision hinzufügen würden, in der Céline jede gesellschaftliche Erscheinung offen legt – unserem konformistischen Vorverständnis zum Trotz.“ Man weiß eigentlich nicht, was das überhaupt soll, wenn man wie Kristeva Céline auf eben jenen apokalyptischen und karnevalesken Ton einschränkt. Also dieses poststrukturalistische Kokettieren tut ein bisschen weh. Der sich anschließende Eintopf-Text nicht weniger. Eine doppelte Aktualität wird Céline zugeschrieben: Erstens habe seine „Sprache“ als einzige die „Erschütterungen des Zweiten Weltkriegs“ überlebt. Auch wenn diese seltsame Behauptung stimmen würde, fragt man sich, was das mit Aktualität zu tun hat. Céline selbst hatte den Anspruch formuliert, mit seinem Stil alle anderen unmöglich zu machen. Jeder möge prüfen, ob ihm das gelungen ist. Die zweite Aktualität ist noch schwerer nachzuvollziehen. Hier die These: „Céline breitet die subjektive und symbolische Basis des Faschismus aus – ein noch kaum erhelltes Problem…“ Kristeva setzt um 1900 eine „psychotische Krise“ an. Diese Krise ist theoriegemacht. Wie viele andere Spaltungsfetischisten setzt auch Kristeva eine Ganzheit an, die zerstückelt wird. In diesem Fall geschieht das durch die „zwei großen Entdeckungen über das symbolische Funktionieren im 20. Jahrhundert“, nämlich die von de Saussure und Freud, die jeweils eine triadische Struktur ihren Überlegungen zugrunde legten, die von da an jede Vereinheitlichung unmöglich machten: Referent, Signifikat, Signifikant bzw. Bewusstes, Vorbewusstes, Unbewusstes. Seit diesem Zeitpunkt gibt es auch Identitäten nur noch als gespaltene. Die Psychotiker nun wollen diese Erfahrung wieder rückgängig machen. Die einzige „signifikante Praxis“ dagegen, die jener Spaltungserfahrung gerecht würde, ist nach Kristeva die „poetische Sprache“. Ihre Lieblingsbeispiele: Mallarmé, Joyce. Also das, was man auch als „unlesbare Texte“ etikettiert hat. Wie kommt da nun Céline ins Spiel. Kristeva behauptet, Céline sei der Versprachlicher von Freuds „Todestrieb“. Darin sei er revolutionär. Aber nur, weil Céline sich des Argot bemächtigt hat? Und dabei natürlich den Leser ein bisschen provozieren will? Kristeva bringt ein weiteres Element ins Spiel, Célines „Syntax-Erfindung“. Damit meint sie Célines (auf die Dauer ja auch gar nicht mehr so merkliche) Arbeit mit den drei Punkten. Auf jeden Fall ergibt sich eine schöne Schlussfolgerung: „Durch die Sprache hindurch ist es der Rhythmus, die Musik, welche den Widersinn chiffrieren, den Todestrieb.“ Es ist schön, dass sich Wissenschaft und Literatur immer so leicht ineinander führen lassen. Literaturwissenschaftler als Überführungsgehilfen ins Totenreich. Die Frage ist nun: Kann Céline das aushalten. So viel Todestrieb, so viel Zerstörungslust, gibt es da nicht den Drang, irgendwo wieder Fuß zu fassen? Interessant in diesem Zusammenhang: Kristeva, die hier keine feinen Trennungen im Oeuvre Célines macht („die Struktur des Célineschen Textes“ – as a whole), fasst Célines erstes antisemitisches Pamphlet, die „Bagatelles pour un massacre“, als „Text der Avantgarde“, sogar als einen Prototyp; in ihrer Diktion liest sich das „Delirium“ des Schreibens, das gewissermaßen gegen die Wand gefahren wird, so: Das Schreiben „setzt sich fort in linguistischem Überschäumen, zum Beispiel in der Signifikant-Trieb-Domäne, aber mit blockiertem Signifikat: stereotype Armut des ,Inhalts’ in manchem Text der Avantgarde – Prototyp: ,Bagatelles pour un massacre’ (das Stereotype des Signifikaten sogar im glanzvollen Signifikanten: ist es vielleicht ein Symptom des Faschismus?“). Die ganze Schwäche (auch im Sinn von: Schwäche für…) des Poststrukturalismus liegt in diesem einen Wort: glanzvoll. Das ist das non plus ultra: Hauptsache Worte, oder eben, in der Diktion: Signifikanten. Man weiß, dass Hitler stundenlang perorieren konnte, bei blockiertem „Signifikat“ (Juden). Glanzvoll? Der Glanz der palabernden Psychotikers. Aber hat man es bei den „Bagatelles…“ um einen delirierenden Autor Céline zu tun? 270 Seiten Sprachdurchfall? Eher nicht. Céline weiß, was er macht. Dass er sich damit unmöglich macht. Er produziert sich selbst als zweiten Sündenbock: Er will Spaß, er will Frauen, er will Erfolg, all das, was er den Juden zuschreibt. Er will ihre Position einnehmen. Und er glaubt, dass er ein Massaker verhindern kann, initiiert durch die Juden. Wenn man sich die „Bagatelles… genauer ansieht, wird man einige Fragen formulieren, die sich schwer beantworten lassen: Für wen schrieb Céline, welcher Part hätte das Blatt wenden können (die Franzosen selbst werden als Schwächlinge beschrieben, über die Deutschen macht sich Céline lustig), welche Rolle hat er sich selbst zugedacht (Opfer?), als was gibt er sich vielleicht unfreiwillig zu erkennen (Kleinbürger, Ur-Patriot), welche Funktion haben die fiktionalen Elemente im Pamphlet. Vor dem Hintergrund des oben beschriebenen Blockade-Modells des Signifikats wäre Célines Aktualität also negativ zu beschreiben, was Kristeva fasste als „symbolische Basis des Faschismus“. Positiv gewendet fordert Kristeva als „,politische Funktion“’ des Schreibens: „Verhinderung des Realwerdens – der Institutionalisierung, der Sozialisierung des Unbewussten: institutionalisiertes Unbewusstes = Faschismus)“. Hat das schon mal jemand probiert?

 

Dieter Wenk (04.07)

 

Julia Kristeva, Die Aktualität Célines, in: Literaturmagazin 10. Vorbilder, Reinbek bei Hamburg 1979, 67-79