6. Mai 2007

Geschichtsbewusstsein

 

Widerstand wird heutzutage meist in Ohm gemessen und bezeichnet, grob gesagt, ein elektrisches Stromleitungsverhalten. Es gab Zeiten, in denen die Bedeutung des Wortes „Widerstand“ in Deutschland mehr Gesicht besaß. Der Kampf von Arbeitern, Künstlern und Intellektuellen gegen die herrschende Klasse, gegen Unterdrückung, Ausbeutung und soziale Realitäten hat eine lange Tradition, die mit dem Zusammensturz der UdSSR und dem Fall der Mauer nicht gerade Zulauf erhielt.

 

Als Peter Weiss 1975 den ersten Teil der fast 1000-seitigen Romantrilogie „Die Ästhetik des Widerstands“ veröffentlichte, gab es große Diskussionen nicht nur unter Linken in Ost und West, sondern auch unter Literaturkritikern und DDR-Bonzen. Das Mammutwerk galt als heiß diskutierte Pflichtlektüre, das auch überzeugte Kommunisten in Rage brachte, weil es vor Kritik in den eigenen Reihen keinen Halt machte.

 

Der Roman ist das erzählerische Hauptwerk von Peter Weiss und entstand zwischen 1971 und 1981. Im Zentrum des Triptychons steht die Person eines fiktiven deutschen Widerstandskämpfers, der 1937 als Jugendlicher Berlin verlässt und über die Tschechoslowakei, Spanien und Paris nach Schweden gelangt. Überall wird er Zeuge der Widerstandskämpfe gegen Nazideutschland und der Machtkämpfe innerhalb der Kommunistischen Partei.

 

Peter Weiss soll die Geschichte seines Ich-Erzählers als „Wunschautobiographie“ bezeichnet haben. Der Schriftsteller, Maler und Filmemacher Weiss wurde 1916 in Nowawes bei Berlin, dem heutigen Neubabelsberg, geboren und starb 1982 in Stockholm. Der Sohn eines Textilfabrikanten und einer Schauspielerin wuchs in Berlin und Bremen auf, emigrierte 1935 nach England, 1936 nach Prag. Er studierte u.a. an der Prager Kunstakademie und gelangte 1938/1939 über die Schweiz nach Schweden, wo er 1941 seine erste Ausstellung hatte. Von 1952 bis 1960 realisierte er mehrere Dokumentar- und Experimentalfilme, ab 1960 veröffentlichte der Suhrkamp-Verlag seine Bücher: Der Schatten des Körpers des Kutschers, Abschied von den Eltern, Fluchtpunkt und andere. 1963 begann Weiss die Arbeit an Theaterstücken und führte zahlreiche politische Dramen an internationalen Bühnen auf.

 

Wie der Titel „Ästhetik des Widerstands“ verspricht, geht es im Roman um die Sondierung und Überprüfung von Kultur als möglichen Nährboden für den politischen Widerstand gegen totalitäre Systeme. Dabei schildert Weiss nicht nur die Lebensbedingungen, unter denen Menschen Kunstwerke lasen, sahen, hörten, sich erarbeiten mussten. Er untersucht, ob die wenigen Menschen, die sich dem NS-Regime widersetzten, Kraft für ihren Kampf aus kulturellen Signalen bezogen, die ihnen ein geschärftes Bewusstsein vermittelten. Weiss besichtigt dabei unter anderem den Dadaismus, den Surrealismus und insbesondere Picassos „Guernica“-Gemälde. Kafkas Roman „Das Schloss“ wird im Romantext ausführlich interpretiert. Der Autor kritisiert den Kommunismus und dessen von der Partei verordnete Kunstform, den sozialistischen Realismus. Die ganze Welt wird abgeklopft auf die Frage: Was ist im Kampf gegen die Konstitution der Machtverhältnisse verwendbar? Das alles ist hochaktuell, nicht nur, weil auf diesem Vorgehen ja auch Poptheorie und Diskursivität basieren.

 

Historische Recherchen u.a. über Herbert Wehner und den Mitgliedern der „Roten Kapelle“ um Harro Schulze-Boysen flossen in den Text ebenso ein wie markante Beschreibungen von Orten, Sinneseindrücken und Reflexionen über die Bewusstseinsprozesse des Ich-Erzählers und seiner Mitstreiter.

 

25 Jahre nach Abschluss des Romans ist nun eine Hörbuchversion erschienen, die vom Regisseur Karl Bruckmaier bearbeitet wurde, in einer Koproduktion zwischen dem WDR und dem Bayerischen Rundfunk. Einer der Kunstgriffe Bruckmaiers besteht in der Aufspaltung des monologisierenden Ich-Erzählers in den jungen, erlebenden Protagonisten (der umwerfend gut gesprochen wird von Robert Stadlober) und dem weisen, älteren (von Peter Fricke eindrucksvoll vermittelten) Erzähler, der zum Zeitpunkt der Niederschrift seine und die Geschichte des Kampfes reflektiert.

 

„Ich musste den Roman um mehr als die Hälfte kürzen. Dabei habe ich versucht, einerseits die lineare Erzählhandlung verständlich zu halten, andererseits die vielen erzählerischen Möglichkeiten von Weiss exemplarisch nachvollziehbar zu machen, ebenso seine weltanschaulichen Positionen. Die CDs 1-5 umfassen den ersten Band, 6-8 den zweiten und 9-12 den dritten Band“, fasst Karl Bruckmaier den Umfang der Originaltext-Bearbeitung zusammen.

 

Das Ergebnis ist extrem textlastig, formal sehr streng und fast wie ein Mono-Hörspiel aufgebaut: Stadlober und Fricke sprechen in der Mitte und liefern 90 % des Materials. Die kurzen, musikalischen Akzente komponierte der Gitarrist, Pianist und Sänger David Grubbs, der u.a. in den Bands Squirrel Bait, Bastro, Gastr del Sol und Red Crayola spielte und spielt. Nur kleine Sounddesign-Einheiten begleiten die präzis gesetzte Sprache: Geräusche von aufeinandergeriebenen Steinen, Geräusche von Erde, Luft und Wasser, das Schlagen von Vogelflügeln und das Krächzen der Krähen – diese elementare Sammlung verwebt sich mit zunehmender Spieldauer ineinander und überlagert sich schließlich.

 

Das Hörspiel endet hochemotional mit den Selbstmorden und Hinrichtungen der Widerstandskämpfer und einer flammenden Rede des Ich-Erzählers, der beschwört, dass nichts vergeblich war. Hier entfacht Stadlober eine ungeahnte Intensität.

 

Es braucht eine lange Autobahnfahrt, um die 12 CDs mit einer Spielzeit von insgesamt 560 Minuten durchzuhören, aber am Ende der Reise wird man ein anderer Mensch sein – aufgeladen mit heute dringend notwendigem Geschichtsbewusstsein.

 

Carsten Klook

 

Der Text erschien in der April-Ausgabe von Style 100 / Style and the

family tunes

 

 

Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands, Hörbuch, 12 Cds im Schuber mit umfangreichem Booklet, der hörverlag 2007, 49,95 €

 

www.hoerverlag.de

 

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