23. April 2007

5 Kilometer Tunnelblick

 

Mit jeder Schuss-Gegenschuss-Überraschung wurde die Frage für mich drängender, ob ich den gerade hinzuge­kom­menen Faden auch noch in meine schon vollkommen überfüllten Hände nehmen wollte, um einer Geschichte auf die Spur zu kommen bzw. allein schon, um mir nicht am Ende der Drei-Stunden-Show vor G., der reglos (angestrengt memorierend? hypnotisiert? eingeschlafen?) neben mir saß, die Blöße zu geben („Ähm, war Nikkis Mann auch Susans Mann?“). Nichts da, stattdessen saßen wir nur da und fragten uns nach der Abspannlektüre, wo zur Hölle Nastassja Kinski ihre Gast-Appearance hatte oder ob wir da gerade geblinzelt hatten (ich glaube doch, es war das einbeinige Mädchen, das am Ende durchs Bild humpelte).

Wenn man Erasurehead, Lost Highway und Mulholland Drive gesehen und da auch nichts verstanden hat, sollte man echt nicht so blöd sein. Aber der Reflex ist widerborstig. Und um diese Neunmalklugheit lahmzulegen, braucht Lynch Zeit (siehe Twin Peaks). Natürlich stimmt die Pressenotiz, laut der man es mit einer ‘“Film im Film“-Handlung’ zu tun hat, aber das ist so augenscheinlich wie banal. Wie schon in Mulholland Drive spielt die Handlung im Filmmilieu, Set und Kino sind Orte der Handlung, wir sind in Hollywood – und Nikki spielt Susan. Aber es ist nicht nur ein Film im Film (Nikki-Susan und Devon-Billy tun es), sondern auch ein Film über Film. Das Handwerk des Regisseurs als Zusammenspiel von Bild, Schnitt und Montage erklärt mir Lynch freundlicherweise schon in den ersten Minuten, als Grace Zabriskie (Sarah Palmer aus Twin Peaks!) in polnischem Akzent Laura Dern (Laura spielt Nikki) darauf hinweist, heute könnte ja auch schon morgen sein (bzw. Mitternacht = Viertel vor neun) und wir mit Laura-Nikki-Susan einen Zeitsprung machen, den wir bis zum Ende des Films nicht recht verwinden. Und dann natürlich im Schuss-Gegenschuss-Verfahren, das beim Über-die-Schultern-Schauen nicht nur neue Räume, sondern auch andere Orte (Los Angeles – Lodz) und Zeiten (heute – geschätzte 30er Jahre; oder eben gestern bzw. morgen) realisiert. Wenn Laura-Nikki-Susan in die Kulisse von Halle 4 rennt (da sie sich gerade selbst gesehen hat, aber das sollte man selbst gesehen haben) und sich umdreht, aus dem Fenster blickt und auf freie Landschaft schaut, entspricht das so ziemlich dem ersten Montageversuch eines Regieschülers, der sich des Zauberstabs Schnitttisch (pardon: Avid) erfreut wie ein Hogwarts-Novize. Technisch das Allereinfachste, trotzdem tut es niemand, denn damit demontiert der Film sich ja selbst. Und dieser Film demontiert sich ununterbrochen, er verschlingt und verschlingert sich mit jedem Schnitt. Deshalb ist Inland Empire nicht nur ein Film im/über Film, sondern ein Film, der über sich hinausgeht. Die „unlogische“ Montage ist so simpel wie mutig, danke auch an Señor Buñuel, der das schon früh vorgemacht hat, surrealistisch nannte man es damals (ganz früher) oder absurd, damals diente sie der Demontage einer christlich-katholischen Sinn- und Bedeutungsmaschinerie und war zugleich sehr erheiternd. Anders als Buñuel, der Filmmusik als suggestives Mittel verachtete, (ge)braucht Lynch die Musik sehr wohl (z. B. von Penderecki, soweit nicht selbstkomponiert und eben typisch lynch-elektronisch-dumpf). Mit ihr führt er uns an der Hand von Laura-Nikki-Susan durch gefühlte 5 Kilometer dunkle Tunnelgänge, manchmal mit ein bisschen Licht aus schönen Bauhausstil-Tischlampen am Ende, mal mit anderen Überraschungen (3 Kilometer hätten’s auch getan, meinte G. hinterher sinngemäß). Es ist vollkommen müßig, die Handlung zu erklären (oder gar zu interpretieren; Pressenotiz: „Erlösung durch Liebe“!), wenngleich man natürlich ein paar Ingredienzien aufzählen kann, z. B.: Nutten und Hasen (haben in diesem Fall überhaupt nichts miteinander zu tun). Als Argument gegen das Verstehen mag auch die Tatsache dienen, dass Inland Empire auf verschiedenen Projekten und Proben Lynchs fußt, einem stimulierenden Besuch des Filmfestivals Lodz und Probeaufnahmen mit Laura Dern sowie Hasenpuppen-Shootings, was dann irgendwie zusammenfloss. Egal ob man von vorne oder von hinten schaut, ich würde G. widersprechen: Ich brauchte die 5 Kilometer Filmtunnel, um eine Szene wie diese ohne jede Grübelei aufnehmen zu können: Ein Mann betritt einen Raum, an dessen Tafel 3 Männer und 1 Frau sitzen. Der Eingetretene spricht mit den Männern (es geht um einen Wanderzirkus, dem er folgen soll, aber egal), die vor ihm sitzende Frau kann er nur hören, aber nicht sehen.

It’s magic!

 

Stefan Moos

 

David Lynch: Inland Empire, USA 2007