11. April 2007

Übersetzen und Täuschen

 

Wenn der Leser nach Beendigung der Lektüre noch einmal an den Anfang des kleinen Romans zurückblättert, noch bevor der erste Abschnitt beginnt, wird er bemerken, dass er sich in der gleichen Lage befindet wie Hervé Joncourt an zwei Stellen seiner Geschichte, wo er nämlich einen Brief öffnet und die Zeichen nicht lesen kann, weil sie zu einer Sprache gehören, die ihm fremd ist: der japanischen. Der Leser müsste sich also wie Hervé Joncourt auf den Weg machen, wie dieser sich nach Nîmes begibt, um jemanden zu finden, der ihm den Beginn des Romans vorliest, den er ja noch gar nicht kennt. Hervé Joncourt reist nach Nîmes, weil dort die einzige Person wohnt, von der er weiß, dass sie des Japanischen mächtig ist, auch wenn diese Person, eine japanische Puffmutter feinsten Stils, davon keinen Gebrauch mehr machen möchte. Das erste Mal nimmt Hervé Joncourt das Wissen der Japanerin in Anspruch, als er das zweite Mal von Japan zurückgekehrt ist, von wo er die Eier der Seidenraupe mitbringt, dem einzigen Ort, wo diese Eier noch intakt sind. Es ist nur ein Zettel mit ein paar Zeichen, aber er kann sie nicht lesen. Die Japanerin übersetzt: „Kommen Sie zurück, oder ich sterbe.“ Die Zeichen sind entziffert, sie wurden vorgelesen, aber Hervé Joncourt versteht sie nicht. Auch der Leser versteht sie nicht. Die einzige, die weiß, ist die Japanerin mit ihrer lakonischen Art. Niemand wird sterben, was auch immer passiert. Das Leben geht weiter, Hervé Joncourt bricht ein weiteres Mal auf, er nimmt wieder den gleichen Weg, dessen Stationen erneut aufgezählt werden mit der kleinen Änderung, wie die Einheimischen den Baikalsee nennen, er trifft in Japan ein, begibt sich an den Ort, wo er Gold gegen Eier tauscht und wo er beim ersten Mal diese seltsame Frau, beinah noch ein junges Mädchen, im Schoß dessen liegend gesehen hat, mit dem er seitdem den Handel betreibt. Das Merkwürdige an dem Mädchen: keine Exotin, westliche Augen, und doch absolut fremd, kein Wort von ihr, nur ein Schauen, das von nichts begleitet wird. Er war schon fast wieder auf dem Rückmarsch, als Hara Kei, der Händler, ihn zurückholen lässt, damit er sage, wer er sei, woher er komme, wohin er gehe. Danach bricht Hervé Joncourt wirklich auf, und er wird auch danach immer wieder aufbrechen, ohne ein Wort von ihr gehört zu haben, von der er glauben muss, dass sie stirbt, sollte er nicht wiederkommen. Das zweite Mal, als die Japanerin in Nîmes Hervé Joncourt vorliest, sind schon ein paar Jahre ins Land gezogen, auch seine letzte Reise, die in jeder Hinsicht katastrophal endete, liegt schon Jahre zurück, es herrschte Krieg in Japan, Hara Keis Dorf niedergebrannt, dieser selbst auf der Flucht, unzugänglich, grausam. Der Brief ist ein siebenseitiger Liebesbrief, der eine Vereinigung schildert, die es so nie gegeben hat und von der beim Vorlesen des Briefs auch nicht klar ist, wer hier mit wem eine Vereinigung vollzieht. Nur die männliche Position ist klar, in jeder Hinsicht, aber wer die Frau ist, die da träumt, weiß man nicht, denn auch die seltsame Fremde in fremdem Land hat der Leser nicht kennen gelernt. Dann stirbt Hélène, Hervé Joncourts Frau. Er wundert sich, dass sie weinte, als Baldabiou, der den Seidenraupenhandel in dem französichen Städtchen Lavilledieu bei Avignon initiierte, wegging, weil er das erste Mal beim Billardspielen gegen die schlechte Seite seiner selbst verloren hatte. Hélène weinte sonst nie. Auch nicht, wenn Hervé fortzog. Bevor Hervé Joncourt ein drittes Mal zu Madame Blanche aufbricht, denkt er lange nach. Er hat auch kein japanisches Schriftstück bei sich, das er sich übersetzen lassen müsste. Und doch ist alles unverständlich, es ist, als ob es ein Zeichen geben würde, das er bisher noch nicht gesehen oder wahrgenommen hat und auf das ihn Madame Blanche hinweisen würde, um es ihm zu erklären. Madame Blanche war es selbst, die die Briefe geschrieben hatte, aber sie hatte sie nur übersetzt, und deren wahre Verfasserin war Hervés eigene Frau, der es nicht gelang, so zu sein, wie die, die keiner kannte, weder sie, noch Madame Blanche, noch Hervé. Was bleibt, ist ein Gespinst, und in seiner Unverständlichkeit schaut es einen immer wieder auf der ersten Seite dieses seltsamen Buchs an.

 

Dieter Wenk (08.03)

 

Alessandro Baricco, Seide. Roman, München 1997 (Piper)