11. April 2007

Standardisierungsverfahren

 

Man kann nicht sagen, dass in Deutschland Célines Bekanntheit über die „Reise ans Ende der Nacht“ hinausginge. Die Neuübersetzung der „Reise…“ hat bestimmt nicht geschadet, aber die nachvollziehbare Behauptung, „Norden“ oder „Von einem Schloss zum anderen“ seien bedeutendere Texte des Franzosen, wäre hier schlicht unverständlich. Das liegt zum einen natürlich daran, dass einige Romane wie „Norden“ vergriffen oder schwerst zugänglich oder wie „Féerie pour une autre fois“ noch gar nicht übersetzt sind. Zum anderen ist hierzulande nicht sonderlich bekannt, dass Céline auch andere literarische Formen als den (autobiografischen) Roman wenn nicht gepflegt so genutzt hat. Er schrieb Theaterstücke – mit zweien fing seine literarische Produktion sogar überhaupt erst an –, er verfasste Ballette und Filmszenarios wie „Geheimnisse auf der Insel“. Die „Geheimnisse“ lesen sich wie ein typischer Céline, knappe Sätze, die Kunst der Andeutung und des selbstständigen Weitertreibens. Die Frage ist: Wie setzt man das um als Film? Wäre die Umsetzung als eine céline’sche wiedererkennbar? Und ist das wichtig? Die Geschichte selbst, die hier erzählt wird, ist ganz einfach. Sie spielt auf einer bretonischen Insel, die Männer fahren zur See, die Frauen bestellen die Felder. Es ist ein eher tumbes Volk. Es fließt viel Alkohol. Fremde werden nicht gerne gesehen. Gestrandete Schiffe plündert man. Alles ändert sich, als Erika mit ihrem Schiff strandet. Als einzige Überlebende beschließt sie, auf der Insel zu bleiben, eine der Inselbewohnerinnen, Yvonnik, wird eine Art Magd von ihr. Im Gegensatz zu allen anderen Frauen ist Erika sehr schön, bald geht das Gerücht, sie sei ein amerikanischer oder deutscher Filmstar. Eifersucht macht sich breit. Dann landen noch zwei Wesen auf der Insel, ein Maler, der nicht weiter interessiert, und seine Tochter Suzanne. Erika und Suzanne freunden sich an, ein bisschen zu sehr, wie die Inselbewohner finden, sie beobachten die beiden, wie sie im Meer baden („Susanna im Bade“…), was sie da sehen (was aber nicht im Text genannt wird) scheint skandalös. Yvonnik ertappt ihren Mann dabei, wie er bei einem Festlandaufenthalt ein Poster von Erika in einem Magazin mitgebracht hat, das er versteckt und mit auf See zum Fischfang nimmt. Während die Männer draußen sind und mit fürchterlichem Sturm kämpfen, rotten die Frauen sich zusammen, stacheln sich an, ziehen zum Haus von Erika und mittlerweile Suzanne, die sich gerade bettfertig machen. Daraus wird nichts. Die Inselfrauen werfen die Scheiben ein, dringen ins Haus ein und quälen Erika. Sie wollen sie sich gleich machen, indem sie etwa die schönen Augen Erikas der Enge des Inselbewohnerinnenaugentypus’ anpassen wollen. Mit Nadel und Faden. Suzanne hat zwar einen Revolver dabei und kann Yvonnik vom Schlimmsten abhalten, aber es nützt ihnen nichts, beide Frauen, Erika und Suzanne, werden gefesselt, in einen Sack gesteckt und ins Meer von einem Felsen aus geworfen. Die zurückkehrenden Männer finden die Leichen, alle wissen, was passiert ist, aber niemand sagt etwas. Bestattungsfinale in der Kirche, Regen über der Insel. Natürlich kann man diese Geschichte problemlos verfilmen, aber es wäre nicht möglich, den Sound Célines vom Film ausgehend zu rekonstruieren. Manches müsste man schlicht einsprechen, weil man nicht so viel Zeit hätte, alles in der Entwicklung erst zu generieren wie zum Beispiel das Bestehen von religiösem Fanatismus der Bewohner oder die feinen Oppositionen zwischen den beiden Geschlechtern. Hier ist das bloß Visuelle im Nachteil, weil es so schnell nicht teilen kann. Ganz zu Beginn spricht Céline vom „Delirium der Natur“. Man weiß, was gemeint ist, aber wenn man den Sturm sähe ohne die indirekte Ansage des Autors einer schicksalhaften Einberaumung von Natur und Inselbevölkerung (die das Delirium mit Alkohol erzielt), geht eben etwas verloren, oder man sieht umgekehrt nicht die finsteren Koalitionen der Maßlosigkeit. Wenn später im Szenario von „ästhetischer Hinterhältigkeit“, „Wachsamkeit und ästhetischer Verzweiflung“ bei Yvonnik gegenüber Erika die Rede ist, dann spürt man in hoch verdichteter Form Yvonniks Niederlage, deren Entfaltung und grauenhafte Steigerung der Film ja vorführt, aber der Film selbst kann das Syntagma „ästhetische Verzweiflung“ eben unter genau diesem Titel nicht inszenieren, weil diese Sprache eben eine Erfindung ist, eine Katachrese, eine Intervention Célines und kein bloßes Stück belichteten Filmmaterials. Aber vielleicht sind das Nebensächlichkeiten gegenüber dem tatsächlichen Drama, das sich auf der Insel abspielt und dessen apokalyptischer Charakter anscheinend keines größeren, „bedeutenderen“ Rahmens bedarf als des Settings einer kleinen, unbedeutenden Insel, auf der beispielhaft die Erfahrung einer Andersartigkeit vorgeführt wird, die nicht anders als durch Vernichtung abgearbeitet werden kann. Der ganze Céline steckt hier schon drin, im Kleinen (die sexuellen Vorlieben für kontemplierbare Lesbierinnen) und im Großen, die Sache mit dem Sündenbock, die Juden. Und doch versteht man den Autor allein deswegen nicht schon besser.

 

Dieter Wenk (02.07)

 

Louis-Ferdinand Céline, Secrets dans l’Île, in: Louis-Ferdinand Céline, Ballets sans music, sans personne, sans rien, Éditions de Pascal Fouché, Paris 2001 (Gallimard), S. 13-24.

Pascal Fouché (Hg.), Céline, le progrès, suivi… – Fortschritt und andere Texte für Bühne und Film, zusammengetragen und vorgestellt von P.F., Merlin Verlag, 1997, 272 Seiten