9. April 2007

Gott ruft nicht an

 

Einige zu Höherem Berufene zischen energisch, als nach anständiger Pause ein ganz gewöhnlicher Applaus einsetzt, der dann auch sofort verstummt. Keine Fotos, keine Haustiere, keine Handys, wir befinden uns in einem Gotteshaus. Gott ruft nicht an. In Gottes Haus kein Applaus. Unter Murmeln und hallenden Schritten leert sich der riesige sakrale Hohlraum.

Das ist schade, denn besonders während der letzten halben Stunde hat der Chorsatz von Wolfgang Rihms »Deus Passus« eine berückende Schönheit erreicht. »Der leidende Gott« wurde nach 2003 und 2005 am Karfreitag bereits zum dritten mal im Hamburger Michel gespielt, erlebte aber eine Art Uraufführung mit der illustrativen Licht-Technik von Michael Batz (der zur WM die »Blue Goals« erfand).

 

Deus Passus entstand im Bach-Jahr 2000, als die Internationale Bachakademie Komponisten aus verschiedenen Kulturkreisen beauftragte, Passionsmusik nach einem der Evangelien zu schreiben. Rihm entschied sich für Lukas, dessen Text am wenigsten antisemitisch sei. Die im Untertitel Passions-Stücke genannte Musik konzentriert sich auf den leidenden Gott als zentrales Charakteristikum des Christentums und seine Wirkungsgeschichte. Das Theodizee-Problem, Gott, der das Leiden nicht aus der Welt schafft, beschäftigt Rihm hier insbesondere mit Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Und Gott, in dessen Namen das Leiden »in die Welt gedrängt wird«.

 

In Wolfgang Rihms Interpretation treffen Elemente der lateinischen Karfreitagsliturgie auf Paul Celans Dichtung »Tenebrae«. Die Passionsmusik bricht aus dem christlich-historischen Rahmen aus und integriert aktuelle Bezüge. Mit dem Leiden Christi verweist Rihm auf die Vernichtung der europäischen Juden.

 

Der Gestus von »Deus Passus« ist überwiegend verhalten und geradezu zart, die trauernde Musik insistiert nicht, wird aber von Ausbrüchen des Schlagwerks, des Chores und der Bläser erschüttert. Das Ensemble ist klein gehalten, und den einzelnen Chorstimmen sind keine individuellen Rollen im Sinne des Bibeltextes zugewiesen.

 

Die Lichtinstallation von Michael Batz agiert genauso zurückgenommen wie Rihms Musik und kommt mit wenigen Bildern, Formen und Farben aus. Gelegentlich blitz das gesamte Kirchenschiff des Hamburger »Michel« auf. Neben der Kanzel schwebt zudem ein weißes Tuch, auf das Motive projiziert werden, ein dreifaltiges Dreieck, ein stilisiertes offenes Herzgewölbe, ein schattenrisshaftes Jesusgesicht, Lichtstriche, die sich zu Dornen formieren.

»Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Forttragen der Glut«, zitiert der 1952 in Karlsruhe geborene Rihm gerne Konfuzius. Seltsamerweise wünscht man sich während der gesamten Aufführung einen säkularen Rahmen, der genau in diesem Sinn den nötigen Kontrast zum sakralen Gestus und eine Distanz zur Kichengeschichte hervorbringt. Dann ginge auch der verdiente Applaus klar.

 

Ralf Schulte

 

Mitschnitt der Stuttgarter Uraufführung 2000:

Helmuth Rilling, Gächinger Kantorei, Bach-Collegium Stuttgart, Juliane Banse (Sopran), Iris Vermillon (Mezzosopran), Cornelia Kallisch (Alt), Christoph Prégardien (Tenor), Andreas Schmidt (Bass)

Doppel-CD Hänssler/Naxos 4 010276 011965

Erhältlich auch im iTunes Music Store

 

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