29. März 2007

Das sehr Alte

 

Schon lange sind Friedhöfe nicht mehr ausschließlich ein Ort der “Ruhe” für die Toten. Der Jogger etwa findet hier ein ausgezeichnetes Terrain, seiner auch für ihn unausweichlichen Bestimmung ein paar Stunden oder sogar Tage Aufschub zu erwirken durch die Weckung seiner Lebensgeister. Die israelische Regisseurin Tali Shemesh stellt in ihrem Dokumentarfilm „The Cemetery Club“ eine etwas andere Art des Aufschubs vor dem endgültigen Verschwinden vor. Eine Gruppe von zwanzig Leuten – alles alte bis sehr alte Menschen – trifft sich jeden Samstagmorgen auf dem Nationalfriedhof Mount Herzl in Jerusalem zur Tagung der leicht ironisch so genannten „Mount Herzl Academy“. In Wahrheit hat diese Akademie aber noch nicht einmal die Bestimmung einer Volkshochschule, denn – das zeigt der Film ausführlich und mit köstlichen Beispielen – es geht hier gar nicht um das „Was“, sondern einzig und allein um das „Dass“: Dass man sich überhaupt sieht und trifft und nicht allein in seinen vier Wänden die Tage verbringt. Aber gerade was das angeht, sind alte Menschen sehr heikel. Das möchte man nicht so gerne zugeben. Die Abhängigkeit. Das Alter. Die Einsamkeit. Und so entbrennt gleich am Anfang des Films bei der Formulierung der Satzung des Vereins ein heftiger Streit darüber, was denn der Zweck dieser Akademie sei. Gegen die Vereinsamung der Mitglieder? Faktisch ist das wohl so, aber der Stolz mancher Beteiligter protestiert. Tatsächlich ist die Satzung sehr schlicht gehalten, alles, was benötigt wird, ist ein Klappstuhl, den ein jeder mitbringt, sowie etwas zu essen für das gemeinsame Mittagessen an dem von vielen als „schönster Ort Jerusalems“ genannten Platz unter einer viel Schatten spendenden großen Pinie. Die Tagung der Akademie findet nicht direkt auf dem Friedhof statt, der Nationalfriedhof Mount Herzl ist zweigeteilt, die Beteiligten passieren zunächst ein Areal des Friedhofs, wo sie immer auch an Herzls Grab, dem Begründer des Zionismus, vorbeikommen, um dann den eher parkähnlichen Teil zu erreichen. Jede Sitzung hat einen Vorsitzenden, der für Gesprächsstoff zu sorgen hat und selbst etwas zum Besten gibt, der Zuschauer merkt aber schnell, dass diese Einrichtung mehr einem MacGuffin gleicht, zu stark ist das Interventionsbedürfnis der Mitglieder, als dass sie sich brav und gelangweilt einem Vortrag hingeben würden, faktisch herrscht Anarchie in diesem Club, und das gilt nicht nur für das Recht der lautesten Stimme, sondern auch für die Konsistenz des Gesagten selbst. Der Dramatiker Ionesco ist dagegen ein ziemlicher Langeweiler verglichen mit dem, was man hier zu hören bekommt. Und genau an dieser Stelle muss man sich fragen, was man hier vorgeführt bekommt. Die Regisseurin selbst ist die Enkelin und Großnichte zweier Akademiemitglieder, ihrer Großmutter und deren Schwägerin, deren Geschichte man auf einem weiteren Erzählplateau meist in Form von Interviews erfährt. Die Großmutter Minya und die Tante Lena stammen aus Polen, wo sie auch die Nazizeit verbrachten, zunächst im Ghetto von Lodz, dann Auschwitz (Tante Lena). Die Regisseurin ist nicht an Betroffenheitskino interessiert, und sei es durch das Hinterstübchen der „Akademie“, sie zeigt eher die eine oder andere groteske Konsequenz aus der fernen, aber immer noch nicht vergangenen Vergangenheit, so etwa wenn Tante Lena vom Hunger in den KZ erzählt und instantan von Magenkrämpfen geplagt wird und sie sofort eine ganze Packung Kekse essen muss. Vermutlich gibt es keinen überzeugenderen Weg, um das Leid und die Kraft der Zeit in ein Bild zu übertragen, das zu denken gibt und zugleich ein Lächeln abverlangt. Fünf Jahre lang hat die Regisseurin die Akademie begleitet, die schließlich doch den sehr wahren Satz mit in die Satzung aufnahm, wonach der Zweck der Veranstaltung gegen Vereinsamung gerichtet sei. Ganz zum Schluss sieht man, wie der Ort wechselt, die Menschen sind zu alt geworden, um den Weg zum Mount Herzl zu gehen, man trifft sich im Altersheim, denn nichts ist so schrecklich wie die Einsamkeit.

 

Dieter Wenk (03.07)

 

Tali Shemesh, The Cemetery Club, Israel 2006