21. März 2007

Repeat, repeat

 

Menschen sind elende und glanzvolle Wiederholungstäter. Nirgends ist das so spürbar und deutlich wie in westlichen Familienverhältnissen. Es bringt gar nichts, zu wissen, was da alles konkret schief gelaufen ist im Laufe eines Erziehungslebens, es wird wider besseres Wissen an die nächste Generation weitergegeben. Das gilt umgekehrt natürlich auch für gelungene Sozialisationen. Die Frage der Weitergabe scheint auf einer anderen Ebene abzulaufen als der von zweckgerichtetem Planen. Im Hintergrund lauert eine nur schwer modifizierbare Automatik, die schon allein deshalb so wenig greifbar ist, weil sie ja nicht als Elternparzelle oder so etwas abgetrennt werden kann; die Automatik ist längst unmittelbarer Teil von einem selbst. Seitdem wir uns daran gewöhnt haben, Neugeborene in die ausschließliche, wenn auch zeitlich mehr oder weniger begrenzte, Obhut von Mutter und auch ein bisschen Vater zu stellen, ist das Geschrei groß, wenn Eltern sich über dieses historische Apriori hinwegsetzen und sich eben nicht um ihre Kinder kümmern. Abschreckendstes Beispiel für viele: der alte Aufklärer Jean-Jacques Rousseau, der ein dickes Buch „Emil, oder über die Erziehung“ geschrieben hat, und seine fünf Kinder ins Waisenhaus schickte. Sein Argument: Ich konnte das Buch nur schreiben, weil ich freie Hand hatte. Dieses Argument kennt man heute sehr gut, nur benötigt man heute keine Waisenhäuser mehr. Der allein erziehende Vater Rousseaus ist eine pädagogische Figur, die nie den Schritt in die Realität geschafft hat. Das liegt an den anderswo beschäftigten Vätern und an den Kindern, die sich mehr und mehr selbst an allem erziehen. Nur kommen dabei immer noch keine in letzter Instanz guten Menschen heraus, was ja die petitio principio Rousseaus und aller nachfolgender Pädagogen war. In Paula Fox’ Autobiografie ihrer ersten zwanzig Jahre (souverän-pointillistisch auf 180 Seiten verteilt) müssen eine Mutter und ein Vater nicht erst durch eigene Erfahrung davon überzeugt werden, dass die Aufzucht eines Kindes ziemlich anstrengend sein kann. Sie geben das Kind sofort nach der Geburt weg. Es wächst bei verschiedenen Bezugspersonen auf, die unterschiedlich auf das Kind Paula wirken. Hin und wieder tauchen die Eltern auf, en passant, meist um eine neue Bleibe für das Kind zu organisieren. Wie knapp auch immer die Kommunikation bemessen ist, mit dem Vater (einem Drehbuchschreiber, die Mutter ist Schauspielerin) gelingt es der Tochter mit der Zeit, ein seltsames, aber doch halbwegs vertrautes Verhältnis aufzubauen. Man hat das Gefühl, dass allein die fehlende Zeit für dieses Skizzenhafte des ansonsten durchaus Normalisierbaren verantwortlich ist und beide, Vater und Tochter, das auch wissen. Vielleicht deshalb nennt Paula ihren Vater immer Daddy. Nicht so die Mutter, die bis zum bitteren Ende Elsie bleibt. Elsie hat das Zeug, die schwärzeste der Rabenmütter aller Zeiten zu werden. Eine Horrormutter, was nicht unbedingt heißt, dass sie ein Horrormensch ist. Nur ist ihr Verhalten zu ihrer Tochter richtig schlimm, und zwar unglaublich schlimm, das muss man einfach lesen, sonst glaubt man’s nicht. Vor der Figur der sporadisch intervenierenden Mutter sollte Kind sich hüten. Nur geht das eben nicht. Vielleicht zieht Paula daraus selbst die richtigen Konsequenzen und gibt ihr eigenes Kind, das sie mit knapp 21 bekommt, zur Adoption frei. Paula Fox gibt in keinem einzigen Satz eine Begründung für diesen Akt (den sie rückgängig machen möchte, erfolglos). Auf jeden Fall ist das ein Spiel mit der slot machine. Man weiß nicht, was dabei herauskommt. Das weiß man zwar auch nicht, wenn man ein Kind erzieht, aber immerhin kann und muss man sich dabei für irgendwie alles selbst verantwortlich fühlen. Wenn dann plötzlich seine eigene Tochter Jahre später, die ganze Zeit ungesehen, vor einem steht, weiß man nicht: Freund, oder Feind? Das ist ein ziemlich gutes, auch gut erzähltes, Buch, vielleicht gerade, weil es so viel offen lässt – offen lassen muss? Die Mutter von Paula Fox bleibt als Person zum Beispiel völlig intakt. Es wird hier nicht spekulativ herumpsychologisiert. Paula kennt ihre Mutter ja auch nicht. Sie erfährt durch diese nur eine schlimme Abwesenheit. Vielleicht war Paula klug, dieses vernichtende Band der Wiederholung zu durchtrennen und sich als Mutter komplett zu verabschieden. Steine können immer nur Söhne und Töchter selbst werfen. Gespannt warten wir auf die Autobiografie von Linda, Paulas Tochter.

 

Dieter Wenk (03.03)

 

Paula Fox, In fremden Kleidern. Geschichte einer Jugend, München 2003 (C.H.Beck; New York 1999)