18. März 2007

Fest für die Sinne

 

„Schön, schön!“ mag denken, wer die Vierteljahrhundert-Übersicht des S. Fischer-Verlags im rechten Handteller wiegt. Das diesjährige „Jahrbuch der Lyrik“ ist die Quintessenz aus den vorangegangenen 24 Bänden (von 1979 – 2006) und macht mit einem Sonderband als 25. von sich reden. Auf fast 400 Seiten ist in dieser Anthologie der Anthologien, dem definitiven Best-of-the-best-of, fast alles versammelt, was in der deutschsprachigen Dichtkunst der Gegenwart und der jüngst vergangenen Vergangenheit Klang und Namen hat. Einzelne Dichter herauszuheben, scheint schon vermessen: Man möchte niemanden vergessen oder vermissen. Schwierig war es sicher, sich auf die wichtigsten Gedichte der einzelnen Jahrgänge zu einigen. Wie schwer mögen da die Entscheidungen gefallen sein, noch einmal aus dieser Creme das Beste zu schöpfen?! Wird das eigentlich dem Geist oder der Seele der Poesie gerecht, dieses oder diese Auswahlverfahren? Das muss es wohl, sonst hätte man sich die Arbeit nicht gemacht, vermute ich gutmeinend und hebe die Stimme zum Unkenruf aus dem Sumpfgebiet.

 

Obwohl eigentlich niemand namentlich erwähnt werden soll, muss ich feststellen, dass meine Lieblingsdichter auch dabei sind: Ernst Jandl, Herta Müller, Farhad Showghi, Ror Wolf, Oskar Pastior, Peter Waterhouse, Thomas Kling, Hans-Jürgen Heise, Karl Krolow, Gerhard Rühm, Peter Rühmkorf, Simon Borowiak und Robert Gernhardt. Nur Max Goldt fehlt. Und Jochen Distelmeyer. Und Frank Spilker. Undundund ... Tja: Pech gehabt. Beim nächsten Mal vielleicht? Wahrscheinlich liegt es auch an den Verlagsverträgen, wenn wer nicht dabei sein konnte ...

 

Ob die versammelten Gedichte allerdings soooo phänotypisch für den jeweiligen Jahrgang sind, in dem sie antreten, möchte ich dahingestellt sein lassen ... am besten ein paar hundert Meter weiter. Viel Himmel, viel Meer, viel Rauch und Wein, viel Abend, viel Vogel und Fisch ... das ist nicht wirklich der Stoff, aus dem heute der Berserker brüllt. „Für mich darfs etwas mehr sein, als ein Doppeldeckerbus voll Frauen, die einander streicheln“ möchte man Herrn Goldt ganz generell beipflichten.

 

Das geschlossenste aller Gedichte ist perfiderweise das Inhaltsverzeichnis:

 

Jahrbuch der Lyrik 1

Jahrbuch der Lyrik 2

Jahrbuch der Lyrik 3

Jahrbuch der Lyrik 4

Jahrbuch der Lyrik 5

Jahrbuch der Lyrik 6

Jahrbuch der Lyrik 7

Jahrbuch der Lyrik 8

Jahrbuch der Lyrik 9

Jahrbuch der Lyrik 10

Jahrbuch der Lyrik 11

Jahrbuch der Lyrik 12

Jahrbuch der Lyrik 13

Jahrbuch der Lyrik 14

Jahrbuch der Lyrik 15

Jahrbuch der Lyrik 16

Jahrbuch der Lyrik 17

Jahrbuch der Lyrik 18

Jahrbuch der Lyrik 19

Jahrbuch der Lyrik 20

Jahrbuch der Lyrik 21

Jahrbuch der Lyrik 22

Jahrbuch der Lyrik 23

Jahrbuch der Lyrik 24

 

Damit mag der Herausgeber, wenn er das Poem denn selbst verfasst hat, den Dichtern einen Streich gespielt haben. Nur die Seitenzahlen und die Nachbemerkung stören ein wenig das ästhetische Wohlempfinden (deswegen habe ich sie hier gestrichen). Rolf Dieter Brinkmann hätte an diesem Gedicht seinen Spaß gehabt, wage ich ganz fälschlich zu behaupten. Wolf Wondratschek, der Jüngere, sicher auch. Aber das ist lange her. „Mehr ist dem eigentlich nicht hinzuzufügen“, hätte Helmut Heißenbüttel vielleicht noch angemerkt.

 

Aber sei’s drum. In dem hier vorgelegten Paket gibt es sehr, sehr viel zu entdecken: die Sprache in ihrer – dem Journalismus wohltuend abgewandten – Präzision, den schönen Gedanken, den Lockruf der (vermeintlichen) Zeitlosigkeit, die so intensiv und schön gefühlte Vergeblichkeit allen Seins und des Schreibens allemal, die Lust am Weitermachen, der Marathon der Sekunden usw. usf.

 

Das Buch, auch wenn das jetzt komisch klingen mag, ist ein Fest für die Sinne. Schon toll. Wirklich und ganz ernst gemeint.

 

Carsten Klook

 

25. Jahrbuch der Lyrik. Die schönsten Gedichte aus 25 Jahren, herausgegeben von Christoph Buchwald, S. Fischer 2007, 416 Seiten, 20 €

 

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