18. März 2007

Ganz Ohr

 

Programmmusik ist, wenn man Klänge hört und gleich dazu noch die Donau vorbeirauscht, zum Beispiel, oder der Rhein. Das Konzept stammt aus den noch idyllischen Anfängen des 19. Jahrhunderts (Beethovens „Pastorale“!) und ist eine Art musikalisches Analogon zu den synthetischen Urteilen a priori des deutschen Idealismus, vielleicht aber auch ein ironischer Kommentar zu den ja nur scheinbar so bescheidenen Ambitionen des französischen Positivismus. Spätestens das 20. Jahrhundert hat gelehrt, Programmmusik als reine Einbildung zu – hören. Man müsste sich auch wirklich fragen, warum man Schönberg’sche Zwölftonmusik nötig hat, um sich begradigte Flüsse vorzustellen, um beim Beispiel zu bleiben. Die atonale Nervosität, die keine programmatischen Zeichnungen mehr zuließ, wurde etwas später von der Konkreten Musik beerbt, die insofern noch radikaler war, als sie nicht nur das Bilderverbot bestätigte, sondern auch noch den Hörer zwang, sich die Frage zu stellen, wo denn die Töne, die er hörte, überhaupt herkamen, ohne dass er die Frage beantworten konnte. Die Späße dieser auch „akusmatisch“ genannten Musik – das Wort griff der französische Schriftsteller und Dichter Jérôme Peignot 1955 auf, das eine altehrwürdige Tradition hat und über Apollinaire bis auf Pythagoras zurückgeht – fallen heute gar nicht mehr auf, weil die von ihrem Ursprung getrennten Klänge und Geräusche als found sound spätestens seit den Anfängen des trip hop uns völlig geläufig sind. Keine Frage, dass man das eine oder andere musikalische Zitat entdecken wird, aber das gehört nicht mehr zum Programm des Sampling; nicht Repräsentationen, sondern Intensitäten machen das Spiel. In der Literatur ist es ein bisschen schwierig, so ganz auf Repräsentationen zu verzichten – hier könnte man zwar konkret ein Gegenbeispiel nennen, etwa die Konkrete Poesie, aber als letzter Ausläufer der historischen Avantgarde hatte sie die Ehre, die Zeit der kunstimmanenten Radikalisierungen zu beenden und die Zeit der Postmoderne einzuläuten. In Rainer Fabians Roman „Das Rauschen der Welt“ geht es entscheidend darum, wie man sich ein Bild von dem machen soll, was man nicht sieht, sondern nur hört. Im informationellen Zentrum des Buchs steht eine Kassette, die dem Protagonisten, dem Hamburger Journalisten Kohner, zugespielt wird, auf der aber keine Botschaft im üblichen Sinn gesprochen ist, sondern auf der sich nur Klänge und Geräusche befinden, von denen noch nicht einmal klar ist, ob sie mit dem zu tun haben, wonach der Journalist sucht, nämlich nach dem Terroristen und „Künstler“ Carlos Pizarro, dem Kohner unterstellt, seine Frau Ana bei einem Sprengstoffanschlag getötet zu haben. Die erste Hälfte des Romans erzählt davon, wie Kohner nach Matatudo, einer fiktiven brasilianischen Stadt, reist, von wo aus er eigentlich über einen bevorstehenden Vulkanausbruch berichten soll, er aber zunächst einen alten Informanten, den „Stringer“ Joao, aufsucht, der ihm mitgeteilt hat, er wisse, wo der Commandante Pizarro sich aufhält. Es ist wohl nicht falsch, wenn der Leser den Eindruck gewinnt, dass die bisweilen etwas ermüdenden Beschreibungen der Stadt Matatudo, die Aufzählungen, die rastlose Suche nach noch einem weiteren Wort mit dem Versuch Kohners zu tun haben, sich einen Reim auf das zu machen, was er da auf der Kassette hört, denn er glaubt, wenn er die Klänge und Geräusche nur richtig interpretiert, eine Art Reiseplan zum Aufenthaltsort des Terroristen zu erhalten. Kohner versucht also, sich mit dem akusmatischen Problem herumzuschlagen, zu einem musikalischen „Ton“ die entsprechende lokale Quelle zu finden. Irgendwann fahren Kohner und sein Stringer, eine attraktive Amerikanerin ist auch noch dabei, in die Berge, genauer: zum Vulkan Pico da Neblina. Es ist eine Fahrt entlang an Geräuschen. Dann finden sie Pizarro. Aber deshalb, weil sie gut zugehört haben? Der zweite, sonderbare Teil des Romans spielt in einem Bergdorf und wirkt ein wenig wie ein stationäres Drama à la Maeterlinck. Es passiert nichts, aber man wartet darauf, dass etwas passiert. Man lernt den Terroristen kennen, wenn auch nicht lieben, obwohl er künstlerisch nicht ganz unambitioniert ist. Kein geringerer als Beuys ist sein Vorbild, er will im Akustischen das schaffen, was Beuys visuell als soziale Plastik begründete. Pizarro hat also einen Aufnahmewahn, überallhin nimmt er einen Kassettenrecorder mit, und in seinem Studio zerlegt er dann das, was keine akustische Fährte mehr sein kann. Am Ende erfährt Kohner, was Kunst mit Terror zu tun hat, nämliche die Wiedergeburt des surrealistischen Akts aus Langeweile, der hier in einer etwas ambitionierteren Variante vorgestellt wird. Einfach auf die Straße gehen und Leute wahllos abknallen reicht dem Commandante nicht, dazu ist er zu subtil. Besser gesagt, er war es, denn was sich da unterhalb des Vulkans abspielt, ist ein etwas absurdes tête-à-tête zwischen einem fetten, heruntergekommenen, nur noch in der Vergangenheit lebenden Ex-Terroristen und einem ziemlich dicken, zynischen, abgehalfterten Midlife-Crisis-Journalisten, der sich immer weiter von seinen Rachegelüsten entfernt und eigentlich nur noch nach Hause will. Der Terrorist und sein Magier Blecaute (wie blackout) haben aber anderes mit ihm vor, nämlich eine kleine Opferung bei einem Volksfest. Wäre da nicht der Vulkan… Wenn Kohner am Ende in einem Krankenhaus aufwacht, fragt sich nicht nur dieser, sondern auch der Leser, von was Kohner da erwacht. Das Rauschen der Welt – ein weißes Rauschen? Eine Antwort auf Don DeLillo? Jedenfalls ein irgendwie zu lang geratenes Buch – mit ein paar guten Ideen.

 

Dieter Wenk (02.03)

 

Rainer Fabian, Das Rauschen der Welt, Stuttgart 2003 (Klett-Cotta)