13. März 2007

Vom Kommunismus keinen Schimmer

 

Der Vater ist ein halbindianischer Ex-Revolverheld mit bürgerlichen Ambitionen. Die Mutter stammt aus einer angesehenen, weit verzweigten, politisch alerten und komplett reaktionären Familie. Sie bäumt sich nur einmal in ihrem Leben auf, mit ihrer Entscheidung für den unpassenden Gatten. Der gute Mann trug seine erste Schussverletzung im Alter von zwölf Jahren davon. Er muss sich damit abfinden, einen Angsthasen gezeugt zu haben ... ein Mamakind auf der Flucht vor dem eigenen Schatten. So wenigstens schildert Lisa St Aubin de Terán den 1934 in den venezolanischen Anden zur Welt gekommenen Berufsrevolutionär Oswaldo Barreto Miliani in ihrem überwältigenden, komischen und kurzweiligen Roman „Deckname Otto“.

 

Die Gattungsbezeichnung vergisst der Leser bald, zu suggestiv wirken die biografischen Behauptungen des spiralig erzählenden Ichs. Man wähnt Oswaldo ohne jeden narrativen Abstand vor sich. Hingegen scheint sich de Terán aus ihrem eigenen Text geschlichen zu haben. Diese Meisterleistung vollbrachte eine Autorin, die 1953 als Tochter einer Engländerin und eines Guyaners in London geboren wurde. Die Heimat ihres Helden wurde ihr als Ehefrau des Venezolaners Jaime Terán vertraut. Sie schreibt über seinen Clan: „Die Teráns ... waren seit Generationen Atheisten. Sie frisierten ihre Chancen ein wenig durch die Frauen, die in der Kirche Lippenbekenntnisse ablegten, während die Männer über sie spotteten. Ihre Söhne verloren ihre Unschuld und ihren Glauben etwa zur gleichen Zeit, also mit zwölf Jahren. Männlichkeit, Klatsch, Ehre, das Dominospiel und die Familie - diese Dinge musste man (etwa in dieser Reihenfolge) ernst nehmen. Religion nahm in den Anden kein Mann mit Selbstachtung ernst.“

 

Jahrelang führte Lisa St Aubin de Terán ein Haziendaleben im Gebirge. Das war bestimmt viel komfortabler als Oswaldos Kindheitsumgebung in dem geradezu mythisch unerreichbaren Flecken San Cristóbal. Immer wieder muss sich der Leser vergegenwärtigen, dass Lisa St Aubin de Terán für den Winkel am Ende der Welt Worte gefunden hat - und nicht ausschließlich ein sich erinnernder alter Mann. Der halbwüchsige Oswaldo kommt nach Valera „als ein Niemand“. Von seinen reichen, die Stadt beherrschenden Verwandten ausführlich verachtet, kann er an sich nur einen Vorzug erkennen; als Redner wirkt schon der Knabe überwältigend. Er bringt sich so in Schwierigkeiten zu Zeiten der totalitären Machtergreifung von Marcos Pérez Jiménez im Jahr 1952. Ein von der Obrigkeit komplett missverstandener Auftritt in der Aula seiner Schule führt zur Relegation. Fluchtartig wird der Junge in die Bundesstaathauptstadt Trujillo verbracht, wo ihn wiederum Angehörige erwarten: „Ihr Weltbild war klar und schlicht: Die Sklaverei hätte nie abgeschafft werden dürfen, Dschingis Khan war ein Schwächling, Hitler gemäßigt.“ In diesen Verhältnissen schließt sich Oswaldo einer kommunistischen Zelle an, die er (in vollendeter Ahnungslosigkeit, wenigstens behauptet das die Autorin) für einen literarischen Zirkel hält. Auch in seiner zweiten öffentlichen Rede brüskiert er Würdenträger wie aus Versehen. Wieder sieht er sich zur Abreise gezwungen, diesmal Richtung Caracas. Inzwischen gibt es in Venezuela Konzentrationslager, Oswaldo findet im Rahmen von Abitursfeierlichkeiten eine Gelegenheit, Jiménez´ Politik zu attackieren. Seine Einlassungen sprengen die Veranstaltung, zum ersten Mal ist er regelrecht auf der Flucht. Der Erzähler will bei alldem allein aus Geltungsdrang gehandelt haben. Idealismus liegt ihm fern, vielmehr steht ihm der Sinn danach, mit gefährlicher Großkotzigkeit Frauen für sich einzunehmen. Nun sucht er familiären Schutz. Ein mächtiger Onkel nimmt den Rebell auf - und lässt ihn gewähren, bis Oswaldo nur noch die Wahl bleibt, sich von Jiménez´ Schergen umlegen zu lassen ... oder ins Exil zu gehen. „Meine Verbannung war mir nicht unwillkommen.“ In Francos Spanien nimmt der Flüchtling ein Jurastudium auf. Er verliert seine religiösen Bindungen, bewirft Priester mit Steinen. Er geht nach Paris, trinkt „Pastis wie Rimbaud“ und demonstriert „im Block der Algerier. ... Die Polizei feuerte direkt in die Menge.“

 

In Tübingen lernt Oswaldo Deutsch. „Die Hauswände waren noch pockennarbig von den Einschüssen.“ Der Fremde betrachtet das zerschlagene Land mit dem Blick eines Ethnologen - aber auch mit den Augen der Liebe zur deutschen Philosophie. „Wie war es wirklich?“, fragt er einen Kriegsteilnehmer. Der End(wehr)machtete rückt Schnappschüsse von Massenerschießungen raus. Die Aufnahmen dokumentieren auch gute Kameradschaft unter Mördern. Nur sie wird hier von Wehmut verschattet.

Oswaldo verliebt sich in eine iranische Freiheitskämpferin in spe. Noch wohnt Vida mit der künftigen Schahgemahlin Farah Diba in Paris zusammen. Der kommunistische Aktivist verfolgt die hochmütige Oberschichtschönheit, seine orientalische Prinzessin, sein Fleisch gewordenes Märchen aus Tausendundeiner Nacht, bis die Architekturstudentin sich ihm endlich gewogen zeigt. „Meine Art, um sie zu werben, grenzte an Wahnsinn und überschritt die Grenzen zum Kriminellen.“

 

Im Roman kommt diese Liebesgeschichte als grandiose Groteske vor. Oswaldos Entblößungen beschämen den Leser. Wo bleibt dein Stolz, fragt man unwillkürlich den an der Sorbonne diplomierten und examinierten Irren, gerade so, als könnte er einem antworten … gerade so, als läse man eine Autobiografie … oder vielleicht sogar so, als befände man sich zeitgenössisch (im Frankreich der 1950er Jahre) im Dunstkreis des gewaltig über seine Verhältnisse liebenden, ansonsten allseits beliebten Versammlungsredners.

Jiménez´ forcierter Abgang im Jahr 1958 gestattet Oswaldo die Rückkehr nach Venezuela. Er avanciert im Bankwesen, reüssiert als Gewerkschaftsführer, kämpft erfolgreich für eine Einführung der Fünfarbeitstagewoche. Er heiratet Vida in Caracas und kandidiert für ein Abgeordnetenmandat, das er nicht kriegt. Er kündigt seinen Bankjob und wird Professor.

 

1961 beginnen Freischärler in Venezuela einen bewaffneten Kampf - der am Rand der Legalität lebende, als unbewaffneter Unterstützer verstrickte linke Intellektuelle gerät rasch in Haft. Nach seiner Entlassung schließt sich „el Profe“ der Guerilla an: „Ich hätte mir keinen ungeeigneteren Freiheitskämpfer vorstellen können als mich. Ich war klein, schwach ... und zimperlich.“ Gleichwohl überlebt er im Dschungel einige Scharmützel und eine Regierungsoffensive. Dem sicheren Tod, nach eigener Einschätzung, entgeht er als kommunistischer Gesandter nach Algerien. Er trifft Che Guevara, der sich von Fidel Castro ideologisch abgesetzt hat. Auch der militante Professor distanziert sich von den Parolen seiner Partei ... in Prag: „Ich lebte im Inneren des Kommunismus und erkannte, dass das eine verkehrte Gesellschaft war, eine Alptraumgesellschaft.“ Oswaldo wird zum Weltreisenden: im Auftrag einer revolutionären Bewegung, an die er (angeblich) nicht mehr glaubt – und der er doch fast alles opfert. Die Genossen befördern ihn zum Superdelegierten für sämtliche kommunistische Konferenzen zwischen Kairo und der Karibik. Er beeindruckt den kubanischen Regierungschef, brilliert als Berater und leidet wie ein Hund unter der militärischen Ausbildung. Während auf allen Kontinenten die gesellschaftliche Aufbruchsstimmung der späten 1960er Jahre karnevaleske Züge annimmt, muss sich Oswaldo, ohne Aussicht auf sexuelle und alkoholische Entspannung, in kubanischen Einöden einer körperlichen Belastungsprobe nach der anderen unterziehen. Er kommt fast um bei Aktionen, die ihm als Bestrafungen in Erinnerung bleiben werden. Als Kombattant eines Kommandounternehmens kehrt der inzwischen von der kommunistischen Partei seines Landes exkommunizierte Revolutionsnomade via Algerien, China und Frankreich nach Venezuela zurück; sich dabei Castros Willen widersetzend. In seiner Heimat jagen sich die Guerilladesaster, nur dem Bankräuber Oswaldo gelingt allerhand. Übrigens auch mit Jaime Terán, dem späteren Ehemann der Autorin, setzt er sich nach Europa ab. Er lebt in England, Italien und Schweden - oft von Diebstählen. 1973 reist er nach Chile, um seinem Freund Salvador Allende unter die Arme zu greifen. Der Staatschef ist schon so gut wie am Ende, seine Gefolgsleute verhalten sich in Verteidigungsfragen zögerlich; im Gegensatz zu ihren zum Angriff entschlossenen Gegnern. Oswaldo ist ein ohnmächtiger Zeuge des Staatsstreichs vom 11. September. Seine Lage in Santiago wird bald so prekär, dass sich der weltweit gesuchte Politbandit – mit falschen Papieren – auf dem Gelände der venezolanischen Botschaft in Sicherheit bringen muss. Er offenbart seine Identität und darf trotzdem nach Mexiko verduften: endlich aller umstürzlerischer Aktionen überdrüssig. Heimweh treibt ihn in den Zugriffsbereich venezolanischer Strafverfolgungsbehörden. Wieder auf freiem Fuß, erhält er seine Lehrbefugnis zurück. „El Profe“ gründet eine Hochschule und macht sich als Kritiker und Autor einen Namen.

 

Dass das alles und noch viel mehr, so wie Folter, Affären und drei Kinder, in ein Leben passt, gleicht einem Wunder. Letztlich ist Oswaldo Barreto Miliani bei fast jeder Unternehmung gescheitert, genauso wie die Linke insgesamt. Seine Person vereint sämtliche Hoffnungen, Irrtümer und Fehlschläge freiheitskämpferischer Kampagnen. Insoweit gibt „Deckname Otto“ ein exemplarisches Leben der Betrachtung preis … und das mit großartigem Witz.

 

Jamal Tuschick

 

Lisa St Aubin de Terán: Deckname Otto, Roman, Insel Verlag 2007

 

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