9. März 2007

Überall ist Heimat

 

Einer der erstaunlichsten Sätze der politischen Folklore ist ja immer noch der erste Satz der polnischen Nationalhymne: Noch ist Polen nicht verloren. Das ist doch was ganz anderes als der deutsche Überfliegerruf. Praktisch hat die polnische Bescheidenheit aber wohl zur Folge gehabt, dass aus der permanenten Hoffnungsbereitschaft gerade aufgrund desolater Zukunftsperspektiven ein chronischer Defätismus werden konnte, dem man nur noch mit den altbewährten zeremoniösen Girlanden des Katholizismus Herr werden konnte. Für ein Land, das den komplizierten und anspruchsvollen Anschluss an die Zukunft nicht verpassen will, waren und sind das schlechte Aussichten. Wenn dann auch noch wache Geister das Land verlassen, müsste man eigentlich die Hymne ganz unhymnisch umschreiben und konstatieren, dass Polen jetzt leider doch (mal wieder) verloren ist. Als der Dichter Witold Gombrowicz 1939 mit einem Schiff nach Argentinien fährt und am 21. August in Buenos Aires eintrifft, ahnt er vermutlich, was da kommen wird. Auf jeden Fall steigt er nicht mehr in das Schiff ein, das nach Kriegsbeginn am 1. September (die deutschen Truppen mussten bekanntlich ab 5 Uhr dreißig „zurückschießen“) wieder die Heimreise antrat. Wer zählt die Emigranten, nicht nur in Buenos Aires? Wer vermag sich heute noch die Deklassierung vorstellen, die zum Beispiel die vielen Künstler allein aufgrund der fremden Sprache erlitten. Wenn man die ersten zehn Seiten dieses Buchs mehr überfliegt als genau liest, könnte man glauben, dass auch Gombrowicz eine Art Autobiografie des fernen Schreckens schreibt. Einsamkeit, Geldnot, Entscheidungszwang. Doch nichts, oder beinah nichts von all dem. Denn mir nichts dir nichts scheint der Leser wieder im Heimatland zu sein. Denn die verrückten Begebenheiten spielen weder in einem zu rekonstruierenden Buenos Aires noch in einem zauberhaften Traumland, sondern in einem vermutlich nur zu realen Polen als Kolonie in Argentinien. Der polnische Nationalcharakter findet sich erbarmungslos abgebildet in grammatikalisch-stilistischen Eskapaden. Gleichgültigkeit oder Hilflosigkeit in antithetischen Anheimstellungen („die werden dir zu etwas verhelfen oder nicht verhelfen!“ oder: „ich werde dich schon irgendwie hineindrehen, hineindrehen … oder nicht hineindrehen!“), Beschränktheit und Unflexibilität in plakativer Deskription: (der Minister der Kolonie: „Ein Scheißkerl, nichts anderes, denn alle seid ihr Scheißkerle, auch ich bin ein Scheißkerl …“), worauf der Dichter, also Gombrowicz, nur mit einer Prozedur antworten kann, die nichts besagt und doch alles sagt: Es ist das schon beinah Thomas Bernhard’sche „Gehen“, das hier zugleich als Kritik und als Lösung vorgeführt wird: Auf einem Empfang geht es mit dem Dichter durch: „Und so eben GEHE ich! Mit Schrecken schaute man, denn niemand war wohl auf einem Empfang derart GEGANGEN … Nun also, dort an den Wänden hockten sie still wie die Mäuschen, einer wie der andere verkroch sich unter ein Möbel (...) Und schon GEHE ich, GEHE ich, und nicht nur dass ich GEHE, sondern so, dass der GANG wie der Teufel ist, dass ich wohl alles zerschlagen werde …“ Dies ist aber erst der Anfang des kein Ende nehmenden Grotesken, das vermutlich aber nur ein wirklicher Pole richtig genießen können wird. Nach dieser Szene wird es auch sehr albern, und dass da ein Autor seiner Nation hat weh tun wollen, dass er aus einem Vaterland so gern ein Sohnland machen würde, dass zum Ende zu immer mehr gelacht wird, verlacht wird, kann man nachvollziehen, aber richtig Spaß macht es nicht mehr. Heute ist Polen vor allem unbekannt. Gemessen am country-quotation-index.

 

Dieter Wenk (01.03)

 

Witold Gombrowicz, Trans-Atlantik, Pfullingen 1964 (Günther Neske)