6. März 2007

Die Wahl der Qual

 

Nichts scheint so schwer zu sein, wie die Dinge zu sehen, wie sie sind. Die Gründe dafür sind vielfältig, keiner aber wiegt so schwer wie der eigene Wille, die Augen nicht richtig aufzumachen und sich von was auch immer blenden zu lassen. Man fügt hinzu (des Kaisers neue Kleider), man nimmt weg (Spieglein, Spieglein), fast nie gelingt es dem Gegenüber, so aufgenommen zu werden, wie es sich von sich aus gibt und zeigt. Das muss nicht immer zu Missverständnissen führen, vielleicht lässt man sich auch einfach nur gegenseitig in Ruhe. In Tiecks Märchenerzählung „Die Elfen“ verdirbt den Bewohnern ein seltsamer blinder Fleck die ansonsten als üppig und fröhlich skizzierte Landschaft, in der Martin und Brigitte mit ihrer kleinen Tochter Marie das Glück haben zu wohnen. Jener blinde Fleck ist ein Tannengrund, ein abgelegener dunkler und schwarz Ort mit einer rauchigen Hütte, verfallenen Ställen und einem „schwermütig“ vorüberfließenden Bach. Dem Leser, dem es schwer fallen sollte, sich einen solchen Bach vorzustellen, wird direkt im Anschluss an diese Schilderung aus Martins Augen Gelegenheit gegeben, den inneren Malakt aufzuschieben, um möglicherweise etwas auf die Spur zu kommen, das dafür verantwortlich ist, dass der schwarze Fleck vielleicht nichts anderes als das unterschwellige Ergebnis einer seltsamen optischen Täuschung ist. Brigitte zumindest kann es sich nicht erklären, wie es dazu kommt, dass sie „traurig und beängstigt“ wird, wenn sie sich dem Flecken auch nur nähert. Eine unausgesprochene Kraft scheint im Raum zu liegen, die den Anwohnern die Sicht verdirbt. Wer mag diesen Ort bewohnen, sind es Zigeuner, Leute, die die Einsamkeit suchen, weil sie ein schlechtes Gewissen haben? Trotzdem kommen keine Klagen, und noch nie hat es einen Verkehr mit den Leuten „hinter den dunkeln Tannenbäumen“ gegeben. Das würde immer so weiter gehen, wenn nicht unschuldige Kinder vorbehaltlos sich den Dingen aussetzen würden. Die kleine Marie kommt beim Spielen auf die Idee, den Ort zu durchqueren, vor dem ihre Eltern sie immer warnen. Beim Laufen um die Wette mit dem Nachbarssohn Andres glaubt sie eine Abkürzung zu nehmen, wenn sie einfach durch den verbotenen Ort läuft. Vor dem Bach überlegt sie, ob sie ihn passieren soll. Ohne dass hier erneut das Attribut „schwermütig“ fällt, glaubt Marie, dass das Weitergehen zu „schrecklich“ sei, aber eigentlich gibt es für das Gefühl keinen wirklichen Anlass. Das einzige, was sich jetzt bemerkbar macht, ist ein „kleines, weißes Hündchen“, das sie von der anderen Seite des Bachs anbellt. Zunächst, im ersten „wirklichen“ Schrecken, hält sie das kleine Tier für ein Ungeheuer, doch dann hält sie inne, denkt über die Situation nach (Andres hat schon einen großen Vorsprung erreicht), und in dieser zugleich durch Nachdenken und durch Hast geprägten Situation fällt es ihr wie Schuppen von den Augen, und der Hund kommt ihr ganz „allerliebst“ vor. Sie springt über den Bach, läuft am Hündchen vorbei und befindet sich „im Grunde, und rundumher verdeckten die schwarzen Tannen die Aussicht nach ihrem elterlichen Haus und der übrigen Landschaft.“ Der schwarze, blinde Fleck macht sie blind für die Wirklichkeit. Nun ist Platz für die andere Wirklichkeit, die sich jetzt vor den Augen der Kleinen aufmacht. Das Märchen beginnt: Marie tritt ein ins Elfenreich. Sie genießt eine schöne, kurzweilige Zeit, aber dann heißt es wieder aufbrechen, denn der „König“ kommt, und dessen Anblick ist Marie nicht gestattet. Natürlich muss Marie ein Versprechen abgeben, nämlich niemals jemandem von ihrem Aufenthalt zu erzählen, denn dann müssten die Elfen fortziehen und die Gegend Maries würde dem Verfall preisgegeben werden. Als Marie zurückgeht, sieht alles ganz anders aus. Die Bäume sind dürr, das Haus der Eltern anders angestrichen, was sie für einen Tag und eine Nacht hielt, waren in Wirklichkeit sieben Jahre. Andres und Marie werden bald ein Ehepaar, eine Tochter, Elfriede, stellt sich ein, und Elfriede ist ein sehr seltsames Kind, frühreif, altklug, wunderschön und ein bisschen asozial. Sie lebt von Anfang an in einer anderen Wirklichkeit, unterhält schon früh den Kontakt, den Marie aufgeben musste, weil der „König“ kam. Der König in der diesseitigen Welt ist der Vater, der im Laufe der Zeit Züge angenommen hat, die man heute als rechtsradikal bezeichnen würde. Ihm ist der Fleck nach wie vor ein Dorn im Auge, die Leute dort seien „landesverderblich“ und müssten fortgeschafft werden. Marie, entsetzt, denn sie weiß, dass im Gegenteil das Land von dem blinden Flecken alles Gute erfahren hat, lässt sich von Martin provozieren und erzählt ihre Geschichte. Obwohl sie die Wahrheit sagt, hat sie zugleich das Versprechen gebrochen, das Geheimnis zu wahren. Es kommt, wie es kommen muss. Die Elfen ziehen fort, die Gegend stirbt ab, Elfriede „verschmachtet“, Marie „verzehrt“ sich und stirbt bald nach ihrer Tochter. Auch in der zweiten signifikanten Situation mit Andres war Marie in einer Lage, die sich nicht aufschieben ließ und ihr Hast ansann: Entweder sie schweigt und hält ihr Versprechen, oder sie spricht und übertritt es. In beiden Fällen aber hätte die glückliche Zeit ausgespielt gehabt, denn entweder wären die „Zigeuner“ entfernt worden, oder durch Maries Erzählung vertrieben worden. Nur Kinder können in einer solchen Situation das Richtige tun. Die Situation ist ihnen angepasst und sie haben die Wahl. Erwachsene können sich zwar entscheiden, aber es ist die Wahl zwischen Pest und Cholera.

 

Dieter Wenk (01.07)

 

Ludwig Tieck, Die Elfen, in: Ludwig Tieck, Der blonde Eckbert. Märchenerzählungen, Stuttgart 1967 (Reclam)