5. März 2007

Tierischer Ersatz

 

Wer Christian Karembeu ist, muss man einem Fußballinteressierten nicht erst erklären. Er gehörte zu dem Team der „bleus“, der Blauen, also der französischen Nationalmannschaft, die 1998 die Fußballweltmeisterschaft gewann und Brasilien mit 3:0 im Endspiel deklassierte. Was aber auch nicht jeder Fußballinteressierte weiß, ist, dass Karembeu, zumindest seine Vorfahren, zu den Kanaken gehörte, genauer zu den Bewohnern der Loyalitätsinseln, die einen Teil von Neukaledonien bilden. „Kanak“ ist übrigens eine Eigenbezeichnung dieser Inselbewohner und bedeutet übersetzt schlicht „Mensch“; erst später übernahm der kolonisierende Westen das Wort, freilich im abwertenden Sinn. In der Zivilisationsmythologie des Westens waren die Kanaken vor allem bekannt als „Anthropophagen“, also als Menschenfresser. 1931, gewissermaßen in der Talsohle des europäischen und schließlich auch mondialen Gemetzels, fand in Vincennes, einem Pariser Vorort, der 1968 durch seine besonders radikalen Studenten bekannt wurde, eine Kolonialausstellung statt, auf der Frankreich dem Publikum seinen exterritorialen Mutterboden zu präsentieren gedachte. Mit über 5 Millionen Zuschauern konnte Marschall Lyautey, der Organisator der Schau, zufrieden sein: „Die Ausstellung hat den Parisern die ganze Pracht der Fauna ihrer Kolonien offenbart, die hier erstmals in einem exotisch anmutenden Rahmen präsentiert wurde.“ Ohne die Vorarbeiten des aus Hamburg stammenden Tierhändlers Carl Hagenbeck, der zwischen den 60er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts als der größte Tierimporteur galt, wäre ein solches Unterfangen nicht möglich gewesen. Der Handel wies vor allem deshalb so exorbitante Zahlen auf, weil viele der vor allem in Afrika gefangenen Tiere entweder schon auf dem Weg nach Europa oder dann dort elendiglich zugrunde gingen. So berichtet der Erzähler dieser kuriosen Geschichte, die übrigens keine Reise beschreibt, wie der deutsche Titel suggeriert (im französischen Original des 1998 erschienenen Buchs heißt er einfach nur „Kannibale“), sondern den „Aufenthalt“ einer Gruppe gewaltsam nach Paris gebrachter Kanaken, zu denen der Erzähler selbst gehörte, dass diese etwa 100-köpfige Gruppe direkt neben den Krokodilen, Alligatoren und Kaimanen untergebracht waren, die das Pech hatten, unmittelbar vor Eröffnung der Schau zu krepieren. Die Ausstellungsleitung entschloss sich aufgrund dieses unerträglichen Zustands einer krokodiellosen Schau zu einem Tausch mit einem Zoobesitzer aus Frankfurt am Main, der Krokodile gegen „Kannibalen“, eben jene Kanaken, zu tauschen versprach. Gesagt getan, die Kanaken durften jetzt in Deutschland und Frankreich zeigen, was sie eigentlich selbst gar nicht (mehr) waren (Gocéné, der Erzähler, war damals schon Katholik). Die westlich inszenierte Choreografie sah in etwa Folgendes vor: „Die Frauen tanzten, die Männer höhlten im Takt den Baumstamm aus, und alle fünf Minuten musste einer der Unseren [so Gocéné] dicht ans Gitter gehen und zähnefletschend einen schrecklichen Schrei ausstoßen, um die Spaziergänger zu beeindrucken.“ Didier Daeninckx ist eigentlich ein Krimiautor, aber was man hier liest, ist kein distanzierter ethnografischer Bericht, sondern ein Fall, der so viele Täter hat, dass man sie gar nicht zählen kann. Die Opfer schon, aber die zählen nicht mehr, wo einer durchkam.

 

Dieter Wenk (01.03)

 

Didier Daeninckx, Reise eines Menschenfressers nach Paris, Berlin 2001 (Wagenbach)