27. Februar 2007

Geborstener Horizont

 

Man wird schon bedrängt geboren. Zum Glück weiß man das im Versorgungstrakt der Menschheit nicht. Wenn man aber alt ist, gibt es keinen Trost aus Unwissenheit mehr. Hinter allen Einbildungen lauert das Nichts - und vielleicht ist es bloß eine Frage der Ehre, ihm aufrecht, das heißt mit Sprache zu begegnen. Hoffentlich meinte Marie-Luise Scherer genau das, als sie feststellte, auch in dem Fall, dass man auf der Welt sein Pensum für erledigt hält, müsse man sich doch noch Pierre Michons "Leben der kleinen Toten" zur Lektüre vornehmen. Der 1945 in Les Cards geborene, nun in Nantes ansässige Autor wurde mit Mallarmé verglichen. Das Wissen der Fledermäuse und anderer Bewohner der Dunkelkammern des Lebens verwebt seine Prosa mit einer heimlichen Schrift. Bei Michon treten die Toten als verarmte Gespenster auf. Sie sind immer noch so verdammt schwach auf der Brust wie zu den Zeiten ihres Vorlebens: "Clara stand da, mager und wie tot, und ihre großen, liebenden Augen ruhten auf mir."

 

Trauer und Zuneigung gehen in eins ... für den Enkel, der seine Großeltern in Mazirat besucht. Das Kaff liegt in der Auvergne, knapp hundert Kilometer entfernt von Clermont-Ferrand, wo der Bauernsohn Michon studierte. Die französische Provinz steht wie ein geborstener Horizont über seinen Lebenslaufabrissen. Michon erkennt "die gleichmachende Lächerlichkeit des Alters" am Beispiel von Greisen, denen die flüchtige Gegenwart des Nachgekommenen ein trauriges Vergnügen bereitet. Den Enkel schert das wenig ... trotzdem, er ahnt, dass Ablagerungen der verwandtschaftlichen Versäumnisse ihm zur Last fallen werden.

 

"Meine Mutter gab mich ins Internat", heißt es am Anfang einer Törleß-Episode mit dem Titel "Leben der Brüder Bakroot". Das erzählende Ich kriegt in der Anstalt erst mal auf Fresse, das steigert seine Beobachtungsgabe. Für ihn sind die Bakroots von Geburt an verworfene "Wintermenschen". Rémi, der Jüngere, unterhält andere Arrestierte mit einem "gaunerhaften, schneidigen" Auftritt. Sein Bruder Roland liest ... den - schon von den Kleinsten gequälten - Lateinlehrer Achilles mit seinem Ernst für sich einnehmend. Aber die Bücher "verderben" ihn. Roland kommt nicht hinter ihr Geheimnis. Er "strandet in einer literarischen Fakultät", während sein Mentor sich harmlosem Wahnsinn überlässt. Wieder ist alles vertan.

 

Jamal Tuschick

 

Pierre Michon: Leben der kleinen Toten, Suhrkamp, 245 Seiten, 19.90 Euro

 

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