20. Februar 2007

Anonyme Vermutungen

 

Gott sieht alles und sei es durch den geringsten seiner Diener.

 

„Tannöd“ kommt dunkel. Auf dem Deckblatt eine blauschwarze, verwahrloste Holzhütte, die Schieferplatten liegen unordentlich auf dem Dach und dahinter steil ansteigende Berghänge. So stellt man sich in Hamburg das hintere Bayern vor. Hoch oben und trotzdem tief im Brunnen. Beklemmend wirkt das und vor allem eng. Und genau diese Stimmung schafft auch der Text. Die Aussagen winden sich in Spiralen, und immer enger werden die Kreise um ein nicht genanntes Verbrechen. Das funktioniert allerdings nur, wenn man nicht zuvor den geschwätzigen Klappentext gelesen hat. Das sollte man nicht.

 

Also zurück zum Deckblatt, dort wird ein Krimi angekündigt. Das hat seine Richtigkeit, aber Maigret sollte man nicht erwarten. Die Geschichte bemüht keinen Detektiv oder Polizisten. Der Leser verfolgt unmittelbar die knappen Berichte von Dorfbewohnern, die nur mit Namen und Alter vorgestellt werden. Nach und nach knüpft sich so ein Netz. Der Leser beginnt, die Aussagenden in Beziehung zu setzen, blättert zurück und überprüft und findet sich schließlich selbst als denjenigen wieder, der die Untersuchung oder das Verstehen zu bewältigen hat. Man ist drin im Buch, vorangezogen von einer schlimmen Vermutung.

 

Mysteriöser wird die Geschichte durch Einschübe, in denen eine anonyme Person beobachtet wird, die man weder identifizieren noch in Beziehung setzen kann, da sie stets allein auftritt. Vielleicht sind es diese vorgeblich sachlichen Beschreibungen, die einen an „Kaltblütig“ von Truman Capote denken lassen, zudem sich im gesamten Buch keine Person zur Identifikation anbietet und der Leser stets außen stehender Beobachtender bleibt.

 

„Tannöd“ ist ein spannendes Buch, und das Beste ist, man kann es selbst verbessern! Zum einen den Klappentext ignorieren und zum anderen die letzte Seite ausreißen und einen Papierflieger daraus basteln. Die hanebüchen trivialen Erklärungen ebendort sind dem restlichen Buch nicht würdig.

 

Hubertus Wabnitz

 

Andrea Maria Schenkel: Tannöd, Kriminalroman, 128 Seiten, Edition nautilus 2006

 

SPIEGEL Bestsellerliste 8/2007 Platz 1

 

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