14. Februar 2007

Grobzeug

 

Wir sitzen hier am Tresen und sind schon am Verwesen

 

1.

Gerade erzählt Grete ihrem liebsten Kollegen Bruno, dass Winnie sie gestern Nacht darum gebeten hat, ihn als Toilette zu benutzen. „Das waren seine Worte“, sagt Grete ohne Verachtung und Erstaunen. Die Dreißigjährige trägt eine trügerische Mädchenhaftigkeit mit Zopf, Seitenscheitel, Spange und Schlaghosen zur Schau. Bei ihren Gästen unterscheidet sie zwischen Patienten und unheilbar Kranken. Grete ist keine verkappte Schauspielerin. Ihre direkte Ansprache verstört das zufällige Publikum. Stammgäste schwören aber auf Grete. Sie haben die Bedienung zur Umsatzkönigin erhoben. Nehmen wir Winnie, das Klo. Er ist immer gut für zehn dunkle Weizen. An jedem Greteabend hat Winnie seine dreiunddreißig Euro Minimum auf dem Deckel, und wenn Grete Zeit hat und gut aufgelegt ist, lässt sie ihn dann noch einmal für wenigstens die Hälfte seiner üblichen Zeche komischen Text aufsagen. Dabei steigert er sich von Mal zu Mal. „Ich kann dir jetzt schon sagen“, sagt Grete zu Bruno, während sie dem Fleischlieferanten Heinz-Zwo zu verstehen gibt, dass er lästig wird, „demnächst will Winnie, dass ich mir Schuhe mit hohen Absätzen zulege und ihm die Absätze, einen nach dem anderen, behutsam ins Arschloch schiebe.“

 

Grete kann Heinz-Zwo nicht leiden. Sie findet ihn unappetitlich. Dass er die Gaststätte mit abgezweigter, umdeklarierter und sonst wie zweifelhafter Ware versorgt, stört sie aber nicht. Der massive Dunstkreis des Veilchenhofs suggeriert eine abgeschlossene Welt. Ein seltsames Hausrecht scheint darin die Gesetze des Staates abgelöst zu haben.

 

Manche nennen Heinz-Zwo Schweinebacke. Das kommt für Bruno nicht in Frage. Mit dieser zärtlichen Zuschreibung bedenkt er immer noch und ausschließlich einen Freund, der als Metzgersohn, über die Grundschulzeit hinaus, Fleisch unter seinen Fingernägeln verrotten ließ.

Bruno fragt Heinz-Zwo: „Suchst du Streit oder Anschluss?“

Heinz-Zwo weiß nicht, wie er das verstehen soll. Ihm könnte sogar einfallen, sich provoziert zu fühlen. Er legt eine Hand auf Brunos Schulter. Wie schon mit zwölf bei solchen Gelegenheiten, sagt Bruno: „Pfoten weg.“

„Du bist ganz schön empfindlich“, behauptet Heinz-Zwo. Seine Hand lastet immer noch auf Bruno. Grete befiehlt Heinz-Zwo, ihren Kollegen in Ruhe zu lassen. Er pariert sofort, anscheinend froh darüber, von Grete überhaupt beachtet zu werden. Er will einen ausgeben. Bruno entscheidet sich für etwas Spezielles.

 

Spezialgetränke heißen im Veilchenhof Mao-Ono (mit Blutorangensaft) oder Yokotse extra trocken. So was denkt sich Elch aus. Er sitzt am Stammtisch. Ein Blechschild weist darauf hin, dass dieser Tisch täglich ab siebzehn Uhr für Ernst Mosch und seine Freunde reserviert ist. Mit solchem Firlefanz vertreibt sich Elch die Zeit. Ihm gehört das ganze Haus als Erbe.

 

Der Veilchenhof liegt wie ein von einer urzeitlichen Ebbe auf Grund gesetzter, gefährlich geneigt zur letzten Ruhe gekommener Dampfer an der Wielandstraße. Seiner ursprünglichsten Gestalt nach war er ein befestigter Patrizierfreisitz. Die Anlage wurde im Dreißigjährigen Krieg zerschlagen und später neu aufgebaut. Nach dem Tod des letzten Handelsfürsten trennte man das Gebäude von seinem herrschaftlichen Schmuck und etablierte darin in den 1860er Jahren ein Lokal. Die längste Zeit wurde es als Familienbetrieb geführt. Elch steht nun aber allein.

Seine hundertdreißig Kilo hat er in einen Strampelanzug gepackt. Er quatscht mit Qualle. Der Küchenhelfer ist ein Knastbruder. Im Veilchenhof hält man das für lässlich. Qualle kapiert die untergründigen Gemeinsamkeiten der bestimmenden Klasse. Seine Eltern stellen in Frankfurt etwas dar. Sie sorgen dafür, dass er nicht vergisst, wie es ist, gehoben bewirtet zu werden … und wie man sich fühlt, nach einem Nachmittag in der Taunustherme.

Qualle findet nichts dabei, als anerkannt Bedürftiger den Staat zur Kasse zu bitten, so wie er überall ruchlos zugreift. Er wird bestimmt nicht alt in der Hofküche.

 

 

2.

Mock ist wieder da. Er war eine Woche im Ostblock oder sonst wo. In Polen gehört ihm ein Haus. Mock ist clever … und angriffslustig und voller Verachtung, für alle, die sich vorführen lassen; so wie die dämlichen deutschen Handlanger. Für Mock sind das bloß Billigheimer, die sich nach seiner Lust und Laune auszahlen lassen müssen; womöglich erst morgens um eins, zwei Stunden nach Schichtende. Mock speist sie ab, in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer des Veilchenhofs. Seine Ausgaben und Bedürfnisse legt sie den Tagelöhnern zur Last. Mock traktiert sie bei jeder Gelegenheit. So hält er die Männer in einem Zustand der Duldungsstarre.

Sein Revier ist ein Vorhof der Dritten Welt mitten in Deutschland. Für die Verworfenen sind Verhältnisse alltäglich, wie man sie sonst nur aus Beschreibungen prekärer Migration kennt. Die Subalternen überleben in einem Schattenreich, ebenso wie Leute ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, die beruflich und privat illegal irgendwo unterkommen müssen. Die Deklassierten kommen aber alle nicht von außen.

 

Sie unterscheiden sich kastenartig voneinander. Die Unberührbaren sind ganz klar für den letzten Dreck zuständig. Man bezeichnet sich als Küchenhelfer und Läufer. Über ihnen stehen die Köche, allesamt abgebrochene und längst in die Jahre gekommene Studenten. Die Autodidakten am Herd bekämpfen sich gegenseitig, so wie sie auf die buckeligste Weise um die Gunst des Elchs buhlen. Weitgehend ausgeschlossen von der Hackordnung sind drei Frauen. Sie verrichten keine Aufgaben in der Küche. An ihren Diensttagen werden sie am Tresen geschont. Dafür bedanken sie sich mit mehr oder weniger verhaltener Zugänglichkeit.

 

An letzter Stelle rangiert Halter. Im Veilchenhof nennt man ihn Bruno, nach dem hingerichteten Problembär italienischer Abstammung. Halter hat sich den Spitznamen mit der Eigenschaft verdient, schwere Sachen leicht zu nehmen. Oft spricht ihn Mock wie einen Hund an. Er bellt Befehle, die Bruno mit rätselhafter Nachgiebigkeit ausführt.

Keinem wird hier mehr zugesetzt als Bruno. In wölfischem Einvernehmen will ihm die Meute den Rest geben.

 

Er wehrt sich unauffällig. Meistens fühlt er sich wohl in seiner Haut. Seine innere Zufriedenheit ist ein Geschenk des Himmels. Man soll ihn für schläfrig halten, so wie jetzt am Stammtisch hockt; … die Lider auf Halbmast; der Rücken rund. Bruno markiert den Abgekämpften, um nicht gestört zu werden bei seinen Beobachtungen. Er guckt sich das Ritual der Auszahlungen an. Der Rock´n´Roller, der heute als Koch in der Küche auftrat, kassiert seinen Lohn wie eine Gage. Er sagt dazu etwas Englisches. Später wird er in seinen Wahn abdriften. Er verteilt gern Kopfnüsse, wenn er blau ist.

Grete bedankt sich für ein Zubrot. Sie kann sich im Veilchenhof nichts vergeben. Auf sie wartet viel Gutes draußen.

 

Bruno nimmt, was ihm zukommt, ohne aufzusehen. Der Elch stößt Bruno an, offenbar gerührt von der eigenen Leutseligkeit. Alle Leute am Stammtisch registrieren die Freundlichkeit des Elchs.

 

Bruno schweigt sich aus, während der Stammtischbetrieb sich zum Tumult steigert. Wie herannahender Geschützlärm klingen die Lachsalven. Man überbietet sich bei jeder Gemeinheit. In solchen Runden sind immer zuerst die Abwesenden fällig, bevor Abfälligkeiten auch Anwesende treffen.

Bruno entzieht sich der Turbulenz. Seine Absicht mit ein paar sinnlosen Schlenkern durch den Schankraum verschleiernd, setzt er sich behutsam in den Clubraum ab. Da steht der Fernseher, neben einem Turm aus leeren Kästen. Auf dem Tisch liegt eine angeknabberte Nussecke auf ihrer Tüte. In einem Keramikaschenbecher wartet ein halbgerauchter Joint auf die Rückkehr des Hausherrn.

 

Ein Western mit Clint Eastwood garantiert Brunos Seelenfrieden. Er verliert sich im Anblick des Helden. Er träumt von der Macht aus Coltläufen. Im Augenblick ist ihm die eigene Ohnmacht fremd. Als im Film Handschellen Gelenke einschließen, überträgt Bruno die Szene auf Veilchenhofverhältnisse. Bruno fühlt sich stark nach dem fünften Bier und ebenso vielen Schnäpsen. Unversehens erscheint das amerikanische TV-Heldentum auch in Frankfurt am Main möglich.

Der Rock´n´Roller tritt ein und fragt blöd: „Wo steckst du denn?“

Er haut Bruno brutal aufs Kreuz und kriegt dafür aus der Drehung dermaßen eine verpasst, dass er kurz abhebt und ihm die Luft wegbleibt. Bruno stellt sich wie ein Kirmesboxer auf. Der Rock´n´Roller ächzt.

„Musste das sein?“

„Allerdings“, antwortet Bruno aufgeblasen. Er kennt den Rock´n´Roller seit zwanzig Jahren. Seine körperliche Überlegenheit stand seither nie in Frage.

 

Elch röhrt. Er möchte ein von Bruno gezapftes Bier. „Prompt, aber Premium“, sagt er. Andere schließen sich mit Forderungen an. Ihr heftiges Verlangen gleicht einer Attacke. In einem Augenblick sackt Bruno in sich zusammen. Man könnte ihm noch alles Mögliche auftragen, so wie Fässer zu wechseln, Apfelwein aus dem Keller zu holen, einen Senfeimer voll Kartoffeln zu schälen. Sowieso muss Bruno nach die Fensterläden schließen und Tische abräumen. Nach all den Jahren im Service, trägt er das Tablett immer noch auf besonders anstrengende Weise. Bruno trainiert. An seinen guten Tagen ist jede Bewegung Gymnastik. So hofft er zu überleben: als Kraftpaket. Man kann Bruno viel antun, aber für die finalen Demütigungen müsste man seine Haut riskieren. Schlagen lässt er sich nicht.

Man hält Bruno anders klein. Er hat keinen Vertrag, keine Schlüssel für den Veilchenhof, keinen Zugang zum Tresor. Ihm fehlt Herrschaftswissen. Dieser Hausbursche weiß nicht, wie man die Gaststätte nächtens dicht macht. Stets muss er gehen, bevor ein Vorgesetzter die letzten Maßnahmen durchführt.

„Ab morgen fick ich dich wieder“, sagt Mock, als Bruno vor ihm ein Bier abstellt. Bruno weiß jetzt, dass er in den nächsten Tagen keinen anständigen Lohn kriegen wird.

 

 

Jamal Tuschick

 

Aktuelle Veröffentlichung: Hrsg. v. Hillen, Boris: Foto-Synthesen, Anthologie, Pahino-Verlag 2006

 

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