13. Februar 2007

Was von der Nacht übrig bleibt

 

Ob man nun den Genfer Linguisten Ferdinand de Saussure als Erfinder des Strukturalismus begreift oder, wie das Jacques Lacan beiläufig in einem seiner Seminare getan hat, Sigmund Freud als denjenigen nennt, der den Strukturalismus „eingeführt“ habe, fest steht, dass strukturale Linguistik und Psychoanalyse etwa zur gleichen Zeit sich formten und das teilen, was Michel Foucault in der „Ordnung der Dinge“ jene „mittlere Zone“ nannte, um die sich, wie um eine unsichtbare und doch wirkungsvolle Achse, ganz unterschiedliche Wissensformationen organisieren und die einer Zeit ihr Gepräge gibt. Die Engführung von Psychoanalyse und Strukturalismus kann sich auf Freud selbst berufen, der darauf hinwies, dass im Traum einzelne Elemente nicht von sich aus bedeuten würden, sondern erst im Zusammenhang zu sprechen anfingen. Der Traum ist wie ein Rebus strukturiert, man muss ihn entziffern und zusammensetzen, wie man das auch in dieser Form des Rätsels macht, bei dem etwa durchgestrichene Buchstaben eben keine reine Form der Privation bedeuten, sondern auf eine zu vollziehende Tätigkeit hinweisen, die etwas generiert, was vielleicht nur allzu bekannt ist. Die bereits klassische Formel jener Engführung findet sich bei Jacques Lacan, und sie lautet: „Das Unbewusste ist wie eine Sprache strukturiert.“ Diese Formel ist natürlich selbst ein Beispiel für Strukturalismus, dessen Hauptprinzip Reduktionismus heißt und dem es vor allem um die Formulierung von Ein- und Ersetzungsregeln geht. Lacan postuliert also eine sprachanaloge Funktion des Unbewussten. So wie die Sprache durch eine synchrone und eine diachrone Ebene gekennzeichnet sei, so arbeite das Unbewusste mit Kontiguitäts- und Ersetzungsmechanismen, die man rhetorisch auch Metonymie und Metapher nennen kann. Warum sagt Lacan nicht gleich, dass das Unbewusste eine Sprache sei? Das liegt daran, dass man das Unbewusste nicht buchstabieren kann. Es ist reiner Prozess, dessen Ausgang und Ende man nicht kennt. Man kann es nicht nach Buchstaben oder Phonemen inventarisieren. Man kann ihm nur bei der Arbeit zusehen, und das, was dabei herauskommt, ist eben kein festgelegter oder isolierbarer Text (wie ein Gedicht oder Roman), sondern eine versuchsweise getätigte Übersetzung aus einem textfremden Bereich, die höchst instabil ist und auf Intensitäten verweist, die keine Referenten für Zeichen abgeben. Dem Unbewussten fehlt also gewissermaßen der Elefant, auf den in der Sprache das Wort „Elefant“ als Zeichen hinweist. Das Unbewusste ist damit eine bodenlose Prozedur, dem gleichwohl eine gewisse Funktionsweise zugeschrieben wird, die sprachanalog gedacht ist. Das heißt natürlich nicht, dass damit das Unbewusste beherrschbarer wird. Und was hat es mit der Beherrschung der Sprache auf sich? Auch ein Papagei vermag grammatisch korrekt zu sprechen, ohne eine Ahnung von Grammatik etc. zu haben. „Der Mensch verhält sich so, als ob er der Schöpfer und Herr der Sprache sei, es ist aber ganz im Gegenteil die Sprache, die sein Gebieter ist und bleibt.“ (Martin Heidegger) In diesem Licht erhält die oben genannte Lacan’sche Formel eine andere Akzentuierung, und man ist geneigt, sie umzudrehen und zu sagen, dass die Sprache strukturiert sei wie das Unbewusste. „Es“ spricht. Das, was sich als positivistische Daten ermitteln lässt, ist nichts als eine Schutzschicht, unter der etwas anderes haust, das an sich unzugänglich bleibt. Jean-Paul Sartre hat 1969 in einem Interview auf die Lacan’sche Formel Bezug genommen, um sie zu variieren. Bereits Ende 1966, dem Erscheinungsjahr von Lacans „Schriften“ und Foucaults „Die Ordnung der Dinge“, brachte Sartre die Formel in einem in Bonn gehaltenen Vortrag an im Zusammenhang erhellender Bemerkungen zu einigen Formen modernen Theaters. In dem Vortrag behauptete Sartre, dass Lacans Formel sich bei vielen zeitgenössischen Autoren einer „allmählich wachsenden Überzeugung“ erfreue und die Auffassung von der Sprache als „maskierte Gestalt unsres Schicksals“ sich immer mehr durchsetze. Als Beispiel nennt Sartre u.a. Ionesco. Drei Jahre später erfolgt wie gesagt ein erneuter Bezug, jetzt mit einem kritischen Vermerk: „Jacques Lacan sagt, das Unbewusste ist wie ein Sprache strukturiert: Ich würde eher sagen, die Sprache, die das Unbewusste wiedergibt, hat die Struktur eines Traumes. Anders ausgedrückt: das Verstehen des Unbewussten findet in den meisten Fällen keinen klaren Ausdruck.“ Anders als Freud begreift Sartre offensichtlich den Traum nicht als „Königsweg“ zum Unbewussten. Die unmittelbare Wiedergabe des Unbewussten ist nicht möglich, denn dessen Artikulation erfolgt nicht im Traum als dessen Inhalt, sondern allenfalls in einer entsprechenden Struktur, also in einer bestimmten Form, die aber „keinen klaren Ausdruck“ beinhaltet. Sartres Variation der Formel scheint resignativ, und doch hat er als Rationalist aus der Formel mehr aus ihr herausgeholt, als Lacan in sie hineinsteckte. Denn immerhin spricht Sartre von „Wiedergabe des Unbewussten“, und wenn er sagt: „kein klarer Ausdruck“, so liegt doch ein Ausdruck, wie verworren auch immer, vor. Es gibt so etwas wie ein traumhaftes Verstehen, auch und gerade des Unsagbaren. Lacan, der das Unbewusste in einer späten Phase als das Reale begriff, also als das, was sich per definitionem dem Symbolischen, also auch dem sprachlichen Ausdruck entzieht, hätte sich nicht mit der Formulierung „kein klarer Ausdruck“ zufrieden gegeben. Aber er hätte dann selber als erster seine eigene Formel revidieren müssen, nach der das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert sei. Vielleicht hätte sie so lauten können: Das Bewusstsein strukturiert das Unbewusste als Sprache der Post.

 

Dieter Wenk (01.07)