6. Februar 2007

70er Rock-Poesie in Neuauflage

 

 

Bereits in den 70ern nannte Reich-Ranicki Wondratschek „beinahe schon einen Klassiker der jungen deutschen Lyrik“. Gemeint war die, anders kann man es in Wondratscheks Worten nicht sagen, fetzige Sprache. Keiner wandte diese Sprache wie er an, und deshalb, aber auch thematisch politisch erreichte Wondratschek die Jugend, die Studenten und somit Breitenwirkung. Er avancierte auf diese Weise mit dem Verfall der 68er-Bewegung zum literarisch-politischen Sendemast der gelähmten politischen Linken. Anfang 2007 erschien sein erster Band „Früher begann der Tag mit einer Schußwunde“ und der Nachfolgeband „Ein Bauer zeugt mit einer Bäuerin einen Bauernjungen, der unbedingt Knecht werden will“ in der hier vorliegenden Neuausgabe.

Wondratscheks Prosa liest sich, wie wenn Uwe Johnson in „Jahrestage“ Zeitungsartikel analysiert und anschließend literarisch-assoziativ zu einem Suggestiv-Panoptikum knüpft. Bloß verzichtet Wondratschek auf die Erzählung. Auf Schönheit folgt Sterben, auf Werbung Verfall, auf Liebe noch mehr Liebe und ein neues Auto. Denn die Welt ist voller Widersprüche, und Wondratschek ist ein Spiegel. Es ist, als sähen wir Fernsehen und notierten uns Schlagzeilen. „Einer fragt einen: Was halten sie von Franco? Einer antwortet einem: In den Ferien interessiere ich mich nicht für Politik! Das ist praktisch. Eine Krawatte für jeden Besuch.“

Man könnte diesem, ist man an-die-Hand-nehmende Prosa gewohnt, mit Kopfschütteln begegnen. Denn es liest sich wie zusammenhanglos hingeworfen. Wir können aber auch Geduld zeigen und uns eingestehen, dass hier etwas für sich auf ungewohnte Weise arbeitet. Denn ähnlich Koeppen oder Johnson muss ich mich auf den Gesamtkontext, auf die Satzbildung, die Unterbrechungen, die Kolorierung der Gefühle und schließlich Ausdrucksmittel eines Prosa-Musikers einlassen, und nicht Geschmeidigkeit oder aristotelische Spannungskurven, die mich durch das Wortdickicht führen. Dann erst entwickelt der Text seine Musikalität. Und so muss der Autor das Buch geschrieben haben, als er sich die ersten Assoziationen aus dem Leib riss. „Früher begann der Tag mit einer Schußwunde“ ist folglich ein buntes, abwechslungsreiches Werk, das Mühe kosten kann, die sich aber lohnt.

„In der Straßenbahn erklärt ein Herr einer Dame einen roten Blumenstrauß. In einem Hauseingang hilft ein Schüler einer Schülerin. Ein Franzose setzt alles auf eine Karte. Eine Laufmasche genügt. Sie schauen sich in die Augen. Sie kennt das Spiel. Sie trägt Kniestrümpfe.“

Als nachteilig erweist sich die viel gepriesene und sperrige Form. Denn so schön Assoziationen sind, so schnell nutzen sie sich für den Leser wie vielleicht selbst für den Autor ab, wenn den bloßen Eindrücken und Folgerungen keine Handlung, keine inhaltliche Kurve folgt. Aber anders als Koeppen oder Johnson ist es Wondratscheks Absicht ganz sicher nicht gewesen, den Leser in eine mitreißende Erzählung einzuführen. Er will auf die Missstände, die Absurdität, die genannten Widersprüche hinweisen. Das Mitreißende erschließt sich mit den Assoziationen des Lesers. Und das gelingt ihm mit filigraner Leichtigkeit. Das Fesseln des Lesers durch ein ganzes Buch, das gelingt ihm leider nicht. Denn gleich wie hübsch und interessant seine Werkzeuge sind, musste ich in der Mitte und zum Ende der Lektüre mit der Zusammenhanglosigkeit der Absätze kämpfen. Ich überlese Passagen, ich lese sie ein zweites Mal; ich streiche ganze Absätze, nur um festzustellen, dass es nichts ausmacht, da die Absätze wie Kapitel auch für sich stehen. Der Autor mag daher ein Provokateur sein, ein fulminanter Prosaist ist er nicht.

 

Rafael Wawer

 

Wolf Wondratschek: Früher begann der Tag mit einer Schußwunde, dtv, Jan. 2007, 144 S., 8,50 €

 

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