5. Februar 2007

Härtlings persönliche Krise

 

Ein Herzinfarkt im Schlaf. Der Schmerz frisst sich durch den Körper, er bittet seine Frau um einen Notarzt, sie leitet, umsichtig, wie sie ist, alle Sofortmaßnahmen ein. „Die Lebenslinie“ ist eine in der ersten Person verfasste autobiografische Arbeit eines ehemaligen Verlagsgeschäftsführers des Fischer-Verlags und längst renommierten und vielfach ausgezeichneten Schriftstellers.

Härtling beschreibt in gelassener, schon lakonischer Weise den herannahenden Tod, die Ärzte, das Krankenhaus und seine Überforderung mit der Wirklichkeit. Er leidet anschließend an den Folgen des Infarkts. Er hat das Autofahren verlernt. Er hat Sprachstörungen und sein Körper reagiert nicht wie erwartet. Er muss in sich einen neuen Menschen entdecken und das erschüttert ihn, den bis dahin entschlossenen und gefestigten Menschen. Und seine schriftstellerische Arbeit ist bedroht, er kann mit den technischen Werkzeugen, die er bis dahin selbstverständlich nutzte, nicht mehr umgehen. Nach 70 Jahren diktiert ihm der Infarkt ein neues Leben. Insofern ist „Die Lebenslinie“ ein aufrichtiges, nüchternes Buch über das, wie Härtling es nannte, Sterben-Lernen und Sich-Wiederentdecken. Vielleicht aus der Erfahrung mit der Grenzerfahrung beschrieb Härtling seine Erfahrung daher unpathetisch – wo andere panisch die Verzweiflung und die erhoffte Zukunft ausbreiten. Es ist ein schmales, präzises und wortgewandtes Buch über das Sterben – und das Leben.

Nur verführt die welterfahrene Gelassenheit, diese schon apathisch oszillierende Distanz, zur oberflächlichen Andeutung von Gefühlen und Konflikten, und nicht deren tiefgründiger Vorstellung. Ein wenig teilnahmslos erfahren wir daher Härtlings Ringen um Wirklichkeit und Unwirklichkeit. Er kündigt jenes Ringen ja nur an, anstatt darzustellen, wie er leidet und litt. So ist es, als verfasste er einen distanzierten Bericht über ein fremdes Schicksal. Mag sein, dass das Buch in einem kritischen Stadium erschaffen wurde. Mag ebenso sein, dass man nach einer Erfahrung wie dieser kein Verlangen mehr verspürt, sich pathetischer und inbrünstiger Auseinandersetzungen anzunehmen.

 

Rafael Wawer

 

Peter Härtling, Die Lebenslinie. Eine Erfahrung, dtv, Januar 2007, 110 S., 14,90 €

 

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