1. Februar 2007

Spiel’s noch mal

 

Die konzeptuelle Anlage der Figuren des Films ist lupenreiner Rousseauismus. Die Menschen werden gut und mit vielen schönen Gaben ausgestattet geboren, aber die böse Umwelt inklusive eigene Eltern machen alles kaputt. Kein Wunder, dass dann pianistische Wunderkinder irgendwann im Knast landen, deformiert zu bestialischen Schlägermaschinen. Die gerade mal volljährige Jenny von Loeben (Hannah Hersprung) ist solch ein Fall. Schon als Kind sahnt sie als kleines Genie alle möglichen Klavierpreise ab, doch dann dämmert es ihr, dass das Verhältnis eines Menschen zu seinem Klavier keines ist, dass von sich aus zu einem Daueralleinstellungs-Merkmal forciert werden muss. Ihr Vater sieht das natürlich anders und bestraft sie, nachdem sie massiv bockt, durch Vergewaltigung. Was Jenny dann so weiter treibt, weiß man nicht, nur dass sie später bei einer Schwangerschaft ihr Kind verliert, weil der zuständige Arzt ein bisschen zu sehr auf Durchhalteparolen gedrängt hat. All das erfährt der Zuschauer im Laufe des Films, denn was an seinem Anfang ins Gefängnis eingeliefert wird, ist nicht die unglückliche Jenny – die lebt da schon –, sondern ein Flügel, den die Klavierlehrerin des Hauses geordert hat. Frau Krüger (Monica Bleibtreu) macht das schon sehr lange. Auch sie hat ihre Lektion in Sachen böser Umwelt gelernt, schon unter den Nazis gab sie Klavierunterricht, eine ihrer Schülerinnen, kaum jünger als sie, wurde als Feind des Volks hingerichtet, sie war Lesbierin, Traude Krüger übrigens auch. Man nimmt es Frau Krüger deshalb nicht ab, wenn sie immer wieder ihre Schutzbehauptung vorbringt, nur der Musik zu leben. Auch ein Kern hat eine Umwelt, die ihn dazu macht. Frau Krüger passt ganz gut ins Gefängnis, denn sie ist sehr streng. Oder hat diese Einstellung gar etwas mit der Sache selbst zu tun, mit der unglaublichen Disziplin, die eine Klavierkarriere erfordert? Wenn sie dem Gefängnisdirektor zu Beginn Sturmbannführer-Mentalität vorwirft, weiß sie ziemlich genau, von was sie spricht. Jenny und Frau Krüger bilden also das seltsame Paar, das sich ein Ziel stellt und alles dafür gibt, es zu erreichen, was einschließt, dass oft das genaue Gegenteil herauskommt. Jenny soll im Knast pianistisch fit gemacht werden für einen Jugendwettbewerb. Am Anfang stehen die Bestie und das Biest. Geht das überhaupt? Zumal in dem Umfeld? Jenny tut erst mal alles, um ihr Privileg des Übenkönnens gleich wieder an den Nagel hängen zu dürfen. Randale, Gewalt, und die kleineren Vergehen wie Unhöflichkeit, mangelnde Körperpflege und das Spielen von „Negermusik“. Da kennt Frau Krüger keine Gnade. Klassik, Klassik, Klassik. Die Nazis haben das ähnlich gesehen, haben aber immerhin Kompromisse gemacht durch Nachkomponieren aus deutscher Hand. Das Gefängnis ist also in Wahrheit eine sehr biegsame Einrichtung, das den spontanen Verhaltensweisen der beiden Frauen breitesten Raum lässt, ohne zu scharf in den beiderseitigen Entwicklungsroman einzugreifen, den man ja auch schon ziemlich schnell wieder hätte beenden können. Die Schwierigkeit ist, wie man die beiden Buhfrauen zu Sympathieträgern umwandelt. Man zeigt also ihre Schwächen (Frau Krüger kann auch lächeln), oder präsentiert Jenny in quasi unmenschlichen Situationen, zum Beispiel soll sie in Handschellen Klavier spielen, was sie auch tatsächlich hinkriegt (fatalerweise mal wieder nur als „Negermusik“). Beide Frauen specken also mit der Zeit ihr schicksalsbedingtes Fehlverhalten immer mehr ab, und die Arschkarte halten dann andere in der Hand, etwa der Vater von Jenny, der sich an Jenny rächende Mütze, am Ende natürlich die Polizei insgesamt, die mal wieder nicht begreift, dass man bei Kultur auch mal ein Auge zudrücken muss, Beispiel Jean Genet. Das Finale findet in der Deutschen Oper in Frankfurt am Main statt, die nachnominierte Jenny spielt Schumann, und sie spielt ein bisschen mehr und anders. Das Publikum merkt recht schnell, was sich da gerade auf der Bühne zugetragen hat, ein Geniestreich, ja, die Rettung des Abendlands vielleicht durch Kunst und Musik, doch da stehen sie schon, die Polizisten, und müssen ihre unpopuläre Pflicht tun. Letztlich schadet die Figurenkonzeption dem Film enorm. Am Ende steht die reine Didaxe, die Verbeugung vor dem klassischen Bildungsideal, das hier als Hip-Hop-Rosskur präsentiert wird. Könnte es nicht sein, dass Musik, auch klassische Musik, bisweilen auch ganz fürchterlich sein kann? Der Klassik-Block liegt diesem Film schwer im Magen.

 

Dieter Wenk (11.06)

 

Chris Kraus, Vier Minuten, D 2006, Monica Bleibtreu, Hannah Herzsprung, Sven Pippig