Der Himmel über Köln
Jene Insel, auf die man, in „splendid isolation“, ein paar seiner Lieblingsbücher mitnehmen kann, gibt es bei Rolf Dieter Brinkmann nicht. Genauer gesagt, die Insel ist schon da, sie ist Köln, sie ist Rom, im Grunde überall, weil sie in Brinkmann selber steckt und er sie nicht erst aufsuchen muss, aber kein Buch drängt sich auf, ihm die Zeit zu verkürzen oder zu versüßen. Es gibt keine Verbeugung, lediglich ein paar Anreger, etwa Karl Philipp Moritz’ „Anton Reiser“, diese verwirrteste Gestalt aus der deutschsprachigen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Respekt wird einzig dem eigenen Projekt gezollt, dem Versuch der Bestandsaufnahme, der Situierung, der Abgrenzung gegenüber der feindlichen Umwelt, dem Vertrauensentzug allem und jedem gegenüber. Textgrundlage des Films von Harald Bergmann sind vor allem Tonbandprotokolle des Dichters aus dem Nachlass, die hier schauspielerlippensynchron den Weg ins Ohr des Zuschauers finden. Dazu gibt es Brinkmanns Sicht auf Köln als Super-8-Aufnahmen, ergänzt durch Bergmanns Streifzüge durch die Kölner Innenstadt im Schlepptau des Brinkmannschen Schauspielerdoubles. Der Film fängt gleich als Beschimpfungsorgie an, es ist der Himmel über Köln, der Brinkmann nicht gefällt, „der gelbe schmutzige Himmel“, das wird nicht gedacht, sondern aufgesagt, geschrieen, rhythmisiert, und so ist gleich ein Tongedicht entstanden. Wie bei einem Exerzitium versucht Brinkmann das bei sich selbst herauszuholen, was er bei seinen Zeitgenossen vermisst, die unter dem Generalverdacht des nicht-authentischen Lebens stehen. Eine bloße Fassadenwelt mit Fassadenworten und -gefühlen, eine urbane Hässlichkeit, unerträgliche Geräuschkulissen, und nichts, was es wert wäre, aufbewahrt zu werden. Brinkmann geht mit seinem Tonband durch Köln wie mit einer Wünschelrute, und das einzige, was es lohnt aufgezeichnet zu werden, ist sein eigener Hass, sein Wunsch, alles möge zugrunde gehen. Er ist der Don Quichote der „totalen Individualität“, die er doch nur als Geifernder, Beleidiger, Provokateur in Szene setzen kann. Ein fast gleichlautendes, nicht realisiertes Projekt hat einmal der ein Jahr jüngere Österreicher Wolfgang Bauer artikuliert, der davon träumte, einmal eine „totale (Auto)Biografie“ auf die Bühne zu stellen. Nur gibt sich Brinkmann freilich viel weniger erkenntnistheoretisch eingeschränkt durch die Anleitung zu einer solchen Totalität, denn er fängt da wirklich an im wirklichen Leben mit seinen apparatgestützten Streifzügen in den Städten. Das ist auch gleichzeitig das ziemlich nervende an diesem Film, der mit hundert Minuten entschieden zu lang ist und textlich sich doch sehr schnell verbraucht mit den spontan erzeugten Litaneien, Lamentos und Flüchen. Es gibt ein, zwei kurze Passagen, wegen derer sich der Besuch fast lohnt, eine fast schon zu raffinierte Collage aus zeitgenössischen elektronischen Klängen, Brinkmanns Stimme, Szenen aus seinen Super-8-Filmen, das ist schon eigentlich zu schick für diese abgefuckte Literatur, die sich ja hier wie gesagt als noch ganz ungesiebtes akustisches Tonbandmaterial darbietet. „Brinkmanns Zorn“ stellt sich nicht unbedingt auf die Seite des Dichters (auch wenn das im Abspann ein wenig rüberkommt mit dem Aufruf zum „Widerstand“), es ist kein Film, der Brinkmann als Identifikations- oder gar Sympathiefigur ins Spiel bringt. Man steht diesem Mann ein bisschen wie einem erratischen Block gegenüber, Totalverweigerung als Option ist heute sehr unzeitgemäß.
Dieter Wenk (11.06)
Harald Bergmann, Brinkmanns Zorn, D 2006