10. Januar 2007

Philosophie im Abgang

 

Philosophen sind Stuntmen der Wissenschaften. Doch scheint es, als würde nach ihnen kaum mehr verlangt. Dieter Henrichs Aufsätze, versammelt im Suhrkamp-Taschenbuch „Die Philosophie im Prozeß der Kultur“, sind historische wie systematische Positionsbestimmungen zur Situation der Philosophie, speziell an deutschen Universitäten. Und seine Gegenwartsdiagnose sieht gar nicht rosig aus. Das Terrain ist nur noch schwach besiedelt, will heißen, es gibt bald überhaupt keine Stuntmen mehr, die furchtlos an den „Grenzen der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis“ den Gründen für die Lebensführung des Menschen nachgehen. Henrich, der in Marburg, Heidelberg, Berlin, München, an der New Yorker Columbia University sowie in Harvard lehrte, wird nicht müde, den Universitätsgedanken Humboldts hochzuhalten. Immer wieder spricht er von „den jungen Menschen“, die in mindestens dreierlei Hinsicht fasziniert sind von der Philosophie: „als Lebenshilfe, als Argumentationsstrategie, als Erschließung eines Ganzen in einer Gedankenarchitektur, deren Weite und Subtilität ohne Vergleich ist.“ Es ist die Spannung zwischen Orientierung und Professionalität, Erziehung und Wissenschaft, was dem Autor zufolge das Studium insbesondere der Philosophie ausmacht und Voraussetzung ist für die Entfaltung der „jugendlichen Produktivität“, an der es in Deutschland seiner Meinung nach zurzeit mangelt. So etwas kann nicht frontal unterrichtet werden, ist nicht im Schnellschuss (Bachelor) zu haben und bedarf guter Lehrer.

Dieser Gedanke der Universität im ursprünglichen Sinne ist für Henrich seit der deutschen Wiedervereinigung abhanden gekommen. „Die verordnete Applikation des Bologna-Schemas auch auf die Philosophie ignoriert nämlich den doch allgemein bekannten Umstand, daß der Entschluß zum Studium der Philosophie sehr oft nicht schon mit dem Abitur feststeht, sondern daß er sich erst im Laufe des Studiums und häufig unter dem Eindruck bedeutender Lehrer herausbildet und verfestigt.“ Die derzeitige Ummodelung der Universitäten hat zwei Ziele im Auge. „Sie meint, es könne ihr gelingen, europaweit oder gar weltweit kompatible Studiengänge zu konstruieren. In einem damit soll das seit langem vernachlässigte Ziel einer für sehr viele geeigneten effektiven Studienorganisation realisiert werden.“ Der weltkundige Philosophieprofessor hat für derlei Vorhaben, die die komplexe Wirklichkeit der amerikanischen Colleges eindimensional auf unser Bildungssystem zu übertragen gedenken, nur drastische Bilder übrig: „Die europäische Vereinigung könnte zum Vollzug des Exitus der europäischen Kultur werden.“ Darüber, dass die historische Arbeit an klassischen Texten inzwischen in Italien, zum Teil sogar in Japan dieselbe Karätigkeit wie hierzulande hat, kann er sich nur bedingt freuen, bleibt doch die Frage, „warum sich in unserem eigenen Land der Mehltau auf das Philosophieren weithin gelegt zu haben scheint“. Man könnte sich freilich fragen, ob es mit dem Philosophieren in Deutschland im Vergleich zum Ausland momentan tatsächlich so schlecht bestellt ist, wie Henrich behauptet. Es ließe sich dagegen auch eine weltweite Tendenz hin zu Spezialisierung, Egalisierung und Pluralität ausmachen, die zu bewerten wiederum jedem freisteht.

Doch neben der vernichtenden Diagnose hält Henrich auch Strategien bereit. Die Bildungseinrichtungen des Landes müssten so viel Selbstständigkeit wie möglich erlangen. Der Übergang zwischen gymnasialer Oberstufe und Universität müsse fließend gestaltet werden. Förderungen müssten gezielt an Hochbegabte vergeben werden. Sonst wäre es so, „als habe im Sport jeder wie alle anderen in der einzigen Liga, welche die Bezirksliga ist, anzutreten und zu malochen“.

Seine Analysen begründet der Autor mit dem in sich verschränkten Prozess von Kultur- und Philosophiegeschichte. „Philosophie hat zum Thema und Ziel ihrer Besinnung die Selbstverständigung des Menschen in Grenzlagen“, ist seine These. Das unterscheidet sie von dem Wunsch nach gesicherten Grundsätzen in den anderen Wissenschaften und nähert sie der Kultur an. Kultur und Philosophie nehmen somit gleichermaßen von Grenzerfahrungen ihren Ausgang. „Die Verstehensart, die in einer Kultur Bedeutung hat, kann in der Philosophie aufgenommen werden und zur Auswirkung kommen. Umgekehrt kann eine Verstehensart, die in der Philosophie ausgearbeitet wurde, von vielen Menschen, direkt oder indirekt, aufgenommen werden. So gewinnt sie für eine Kultur Bedeutung und kann ihr einen Impuls bei der Verwandlung der Verstehensart geben, an der sich das soziale Verhalten orientiert.“ Die Darlegung dieses Ineinandergreifens von Kultur und Philosophie gelingt Henrich am deutlichsten in der Beschreibung der deutschen Nachkriegsphase. Namen wie Jürgen Habermas, Hans Blumenberg oder sein eigener stehen für ein Denken, das sich mit der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und der frühen bundesrepublikanischen Wirklichkeit auseinanderzusetzen hatte und die Kultur des Landes mitbestimmte. „Die schrille Stimmlage eines diskreditierten Propagandaapparats war wohl allen noch in den Ohren, und die Notwendigkeit, sich zu besinnen und in Distanzen zu denken, die man sich selbst zu erarbeiten hatte, war eines der Motive, die in die Philosophie zogen.“ Diese Zeiten scheinen für immer vorbei zu sein, denn den „ins Wirtschaftswunder Hineingeborenen fehlen womöglich die Verletzungen und Herausforderungen, die beharrlich und energisch nach einer selbständig erworbenen Verständigungsart such lassen.“ Für Henrich und seine „Generation im Abgang“ verständlicherweise ein Grund zur Trauer. Aber weil Henrich bei Hans-Georg Gadamer studierte, ist er Idealist, nicht mit dem hohem Pathos übersteigerter Erkenntnisansprüche, aber mit den Mitteln der philosophischen Untersuchung vertraut, auf dem Weg, die zarten unendlichen Verbindungen von Leben auszulegen und zu begründen. Nachdem die Philosophie „einmal ins Dasein gekommen ist, wird sich dies Verlangen auf sie richten und sie in einer Bewegung halten – auch dann noch, wenn die Universitäten verschwänden, die Wissenschaften zum Erliegen kämen und die Zivilisation irgendeiner neuen Barbarei gewichen sein würde“.

 

Gustav Mechlenburg

 

Dieter Henrich: Die Philosophie im Prozeß der Kultur, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, 250 Seiten, 11 Euro

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

amazon

 

Erstveröffentlichung: Widerspruch 45, 2007