Privilegiert
Der Zerfall einer Familie und der Krebstod der Mutter, erzählt aus der Perspektive eines weißen Mädchens im Südafrika des Apartheidregimes – das ist die Story, die in Karlien de Villiers’ Comic Meine Mutter war eine schöne Frau erzählt wird. Diese Familientragödie wird mit dem einsetzenden Ende und Zerfall des Regimes thematisch verknüpft. Im Mittelpunkt steht jedoch die Krankheit der Mutter, der Rassismus kommt nur am Rande vor – so am Rande, wie ihn weiße mittelständische Kinder in Südafrika wahrscheinlich empfunden haben dürften. Nun beginnt und endet Meine Mutter war eine schöne Frau in der Gegenwart Südafrikas, einem Südafrika nach der Apartheid. Die Perspektive bleibt jedoch die gleiche, Schwarze sind nach wie vor Statisten, arbeiten als Straßenhändler: »Ich, ich hab’ großen Hunger. Ich mach’ Ihnen einen Spezialpreis. Nur 20 Rand«, »Ich hab’ aufs Auto aufgepasst. Ein bisschen Kleingeld, bitte, bitte«, sind die einzigen Sätze, die man von ihnen zu lesen bekommt. Sie sind zwar frei, an ihrer marginalisierten sozialen Stellung hat sich mit dem Ende der Apartheid jedoch nichts geändert, zu stark sind die rassistischen Strukturen in der Gesellschaft verankert und bestimmen diese bis heute, und zu sehr haben die ehemals Unterdrückten ihre Rolle angenommen. Im südafrikanischen Apartheidregime wurde – ganz klassische Siedlungskolonie – der autochthonen Bevölkerung zur Legitimation der eigenen Überlegenheit und zur Rechtfertigung der Ausbeutung in Land- und Minenarbeit kurzerhand die Menschlichkeit abgesprochen. Durch die Schaffung so genannter »Homelands« sollten Schwarze aus weißen Gebieten ferngehalten werden, sie verloren die südafrikanische Staatsbürgerschaft und erhielten eine international nicht anerkannte Homeland-Staatsbürgerschaft. Außerhalb dieser Areale galten sie lediglich als Besucher. Gerechtfertigt wurde die Rassentrennung, ebenfalls kein ungewöhnliches Vorgehen, über die Religion. Die niederländischstämmigen Buren, von 1948 bis 1989 an der Regierung, waren durch den Calvinismus geprägt und hatten Johannes Calvins Prädestinationslehre, also die Lehre der Vorbestimmtheit des menschlichen Schicksals, weiterentwickelt und aus dieser Tradition heraus die Rassentrennung gerechtfertigt. Bereits Antonio Gramsci hat gezeigt, wie einer unterdrückten Bevölkerung durch Erziehung und kulturelle Praxis eine Einwilligung in hegemoniale Ordnungsverhältnisse abgerungen werden kann. Diese »Einwilligung« wirkt auch über das Ende des Apartheidregimes hinaus – in den Köpfen der ehemaligen Unterdrückten wie auch der Unterdrücker.
In Deutschland wurde der Comic als kritische Auseinandersetzung mit dem Apartheidregime rezipiert, aber wo steckt diese Kritik? Über die Lage der Schwarzen zur Zeit der Apartheid erfährt man bei de Villiers nichts oder nur am Rande, die Homelands beispielsweise werden folgendermaßen charakterisiert: »Bezeichnung für die Stammesgebiete der Schwarzen in Südafrika, die von den weißen Apartheidführern abwertend ›Bantustas‹ genannt wurden. Mit der Homeland-Politik sollte die Rassentrennung der Apartheid unter dem Motto der ›separaten Entwicklung‹ auch territorial durchgesetzt werden.« Mit dieser Formulierung wird die Politik auf eine territoriale verkürzt und so die ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse weggestrichen.
Einerseits muss man zu all dem ja auch nichts erfahren, schließlich hat man es hier mit einem Comic und keinem Geschichtsbuch zu tun, und in Südafrika, wo Auszüge des Comic erstmals erschienen, dürften die Dimensionen des Begriffes ohnehin bekannt sein. Andererseits kann ein Comic, der vor dem Hintergrund des Apartheidregimes eine Familientragödie erzählt (und auf diese Weise erfährt man dagegen viel über eine weiße Perspektive auf die Zeit der Apartheid), nicht ohne diesen Hintergrund gelesen werden. Man kann natürlich die Emanzipation der Protagonistin von ihrer Familie, von ihrem unterdrückenden und einengenden Vater, als Spiegel der gesellschaftlichen Vorgänge im Südafrika des Umbruchs ab dem Ende der 1980er Jahre lesen. Schwierig bleibt es aber, die Probleme einer weißen mittelständischen Jugendlichen als Metapher für rassistische Ausgrenzungen zu lesen. In ihrem Essay Three Women’s Text and a Critique of Imperialism geht Gayatri Chakravorty Spivak der Frage nach, wie eine feministische Rezeption des Romans Jane Eyre Charlotte Brontës deren Inhalt verzerrt: In Brontës Erzählungen wird Spivak zufolge eine weibliche Emanzipation der weißen Frau nur unter Auslassung der kolonisierten Frau möglich. Nach Spivak ist es zwar die Aufgabe der intellektuellen Elite, das Wort zu ergreifen für diejenigen, die nicht gehört werden, jedoch immer in Auseinandersetzung mit der eigenen privilegierten Position. Und vielleicht ist es dies, was beim Lesen von Meine Mutter war eine schöne Frau so unangenehm auffällt: die fehlende Selbstreflexion der Protagonistin, die mangelnde Reflexion ihrer privilegierten Position in Südafrika.
Um sich dieser Problematik anzunähern, ist zunächst allgemein nach dem Verhältnis von Geschichte und Comic zu fragen. Hayden White macht darauf aufmerksam, dass Geschichtsschreibung nicht von der Form, in der sie präsentiert wird, zu trennen ist. Ole Frahm hat in seiner Dissertation Genealogie des Holocaust – Art Spiegelmans MAUS – A Survivor’s Tale gerade die Medialität des Comics als Möglichkeit der Auseinandersetzung mit der Darstellbarkeit von Auschwitz herausgearbeitet. Er hat gezeigt, dass das Verhältnis von Geschichte und Comic, die Darstellung von Geschichte im Comic, im Falle von MAUS als Prozess der Materialisierung von Geschichte gelesen werden kann: »Die ›historischen Fakten‹ zeigen sich so als befragte und umkämpfte, ein Streit, der durch keinen einzelnen Diskurs geschlichtet werden kann, sondern als Streit die Wahrheit des Vergangenen belegt.«
Nun lässt sich in Bezug auf Auschwitz schwerlich der Inhalt von seiner Darstellung trennen, dennoch zeigt Frahm über diese Thematik hinausweisende Möglichkeiten des Comics auf, die auch für Karlien de Villiers’ Comic in Anschlag zu bringen wären. Er fordert vom Comic, den Widerspruch zwischen der Darstellung von Geschichte und der Problematik der Darstellung in sich auszutragen, darin ähnlich Adornos Forderungen an eine Kunst und Kultur nach Auschwitz. Ein Ansatz könnte die Spiegelung der Lückenhaftigkeit in der Erinnerung in den Lücken zwischen den Panels sein: De Villiers dehnt diese Leerräume bis zum Äußersten, weicht vom traditionellen Erzählen im Comic ab und bewegt sich hin zu einer Reihung von Momentaufnahmen, wodurch Meine Mutter war eine schöne Frau sich ästhetisch einem Fotoalbum annähert. Dabei kommt sie der ästhetischen Umsetzung von biografischer Erinnerungsarbeit, die zwangsläufig diskontinuierlich und fragmenthaft ist, näher, als dies einem literarischen Werk, das die Lücken mit Sprache zu füllen hat um verständlich zu bleiben, möglich wäre. Doch gerade die Fotoalbumsästhetik läuft der Reflexionsleistung zugleich zuwider: Der Kampf der Schwarzen um Gleichberechtigung wird durchaus abgebildet, aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, jedoch immer aus der Sicht ignoranter privilegierter Weißer, die zwar zum Teil Mitleid mit den Unterdrückten haben, aber nicht einmal im Ansatz ihre eigene Rolle im Unterdrückungszusammenhang hinterfragen. Und auch das Mitleid des Lesers wird auf die Protagonistin gelenkt, die unter dem Tod ihrer Mutter, den Problemen mit ihrem Vater und der Entfremdung von der Schwester zu leiden hat.
Dennoch bleibt der Comic, wie auch Jane Eyre, ein interessantes Dokument des Wirkens (post-)kolonialen Denkens. Ebenso selbstverständlich wie der Rassismus das Denken und den Alltag der dargestellten Menschen strukturiert (»Diese Art Geldbeutel ist sehr gefährlich! Damit erwürgen schwarze Männer und Terroristen kleine weiße Mädchen«, lautet der Rat der Urgroßmutter an die Protagonistin; oder: »Wären unsere Schwarzen doch wie die Cosbys! Dann dürften sie gerne unsere Nachbarn sein.«), wird die Funktion der Religion, unerlässlich für das Funktionieren der südafrikanischen Apartheid, vorgeführt: »Danke, Jesus, für Essen, Kleider und ein Bett zum Schlafen. Hilf mir bitte gut zu sein, und beschütze die Männer an der Grenze, die unser Land bewachen«, betet die Protagonistin jeden Tag. Innerhalb Südafrikas ist der Comic sicherlich eher als kritische Auseinandersetzung rezipierbar, da er beispielsweise darauf hinweist, dass Schwarze tatsächlich in der Mehrheit nach wie vor ökonomisch benachteiligt sind (auch aufgrund der neoliberalen Wirtschaftspolitik des mittlerweile regierenden ANC), und somit in der Tat Leerstellen der Gesellschaft aufzeigt, aktuelle aus der Apartheid resultierende Probleme mitthematisiert. Dort ist er allerdings in der vorliegenden Form nie erschienen. Karlien de Villiers ist gewiss keine Rassistin und hat den Comic wahrscheinlich tatsächlich als kritische Auseinandersetzung mit dem Apartheidregime angelegt, sie hat jedoch den Punkt verfehlt, an dem diese Kritik greifbar wird. Zumindest aus europäischer Sicht.
Erschienen ist er erstmals auf Deutsch und so bleibt die – wiederum unreflektierte – deutsche Wahrnehmung des Comics problematisch, war doch gerade die BRD eines der Länder, die massiv an der Unterstützung des Apartheidregimes mitgearbeitet und -verdient haben. Dass dies nicht von de Villiers thematisiert wird, kann man ihr nicht vorwerfen, wohl aber sollte deutschen Lesern dieser Hintergrund bewusst sein, bevor oder während sie mit der in Folge des Wirtschaftsboykotts hungernden Protagonistin Mitleid empfinden.
Jonas Engelmann
Karlien de Villiers: Meine Mutter war eine schöne Frau, Arrache Coeur 2006, 64 Seiten, 24 €