9. Januar 2007

Harold und Maude

 

Wenn die Bewährungshelferin Elsa Seifert ihrem Mann weniger gesteht als erklärt, dass sie den jüngst ihr unterstellten Schützling, den 17-jährigen Jan, doch gar nicht ficke, sondern mit ihm eine Sado-Maso-Beziehung unterhalte, so steckt die ganze Unwahrheit dieser Aussage in der scheinbar so genauen und treffenden Bezeichnung selbst. Denn der junge Straftäter ist alles andere als ein stumpfer leidender Knecht mit viel Eisen an seinen Extremitäten und dem winselnden Blick in seinem Gesicht, Jan ist ein souveräner Magier, eine Art Self-made-man, der genau weiß, was er will und unbedingt als tätiger Mensch zu beschreiben ist. Er sieht aus wie ein Engel, und sein älterer Bruder könnte der unwiderstehliche Mann sein, der in Pasolinis „Teorema“ eine ganze Familie verführt, beinah wie von selbst. Aber auch die 35 Jahre ältere Elsa entspricht keineswegs dem Cliché, das man sich von einer Sadistin vielleicht macht. Sie weiß nämlich gar nichts von ihrer Anlage, bis Jan, insistierend, ihr die Augen öffnet für sich selbst. Die meisten Leute schotten sich doch deshalb ab, weil sie instinktiv wissen, dass sie in Teufels Küche kämen, würden sie die Hand ergreifen, die sich ihnen meist nur in schlafwandlerischer Konstitution entgegenstreckt. Das lässt diesen Film eben wie ein Märchen aussehen. Und es ist eher zweitrangig, dass Elsa eben diesen Job hat und Jan ein kleiner Krimineller ist. Dass „Verfolgt“ in schwarzweiß gedreht wurde, hat also nicht so viel mit der dunklen Seite der Gesellschaft zu tun, hier am Beispiel von Vollzug und Resozialisierung vorgeführt, sondern mit der künstlichen Atmosphäre, die vor allem über den beiden zentralen Figuren liegt. Jans Überhöhung als Person in Richtung unbeirrbarer Engel erfährt dabei, und man weiß nicht, ob das Absicht ist oder nicht, eine deutlich komische Kontrastierung durch die Art und Weise seines Auftritts genau in den Szenen, in denen es um die spezielle sexuelle Handlung gehen soll, die ihn interessiert bzw. auf die hin ihn alles orientiert. Der reine Engel wirkt dann nämlich wie eine Versuchsperson im eigenen Experiment, die selbst gar nicht so recht weiß, auf was das alles hinauslaufen soll. Man muss sich diese scheinbar ganz klar konturierte S-M-Beziehung viel eher wie einen Steinbruch vorstellen, bei dem sich der Schlagende und der Geschlagene bei jedem Hieb fragen, ob es sich überhaupt um einen Steinbruch handelt, der von wem auch immer zur Ausbeutung freigegeben wurde. Es ist ergreifend zuzuschauen, wie hier auf kongeniale Weise wirklich einmal Brecht’sches Verfremdungstheater fruchtbar gemacht wird. Sexualität wird hier nicht vollzogen (nichts ist so verlogen wie ihre unterstellte „Allomathie“), es kommen hier nicht zwei Personen zusammen, die für einander bestimmt waren (das ist die Grenze des Märchens), sondern es wird wunderbar klapprig das Rätsel selbst in Szene gesetzt, wenn Leute eigentlich nicht weiter wissen, wo Außenstehende voraussetzen, dass der Weltgeist im Kleinen, manchmal eben auch Schmutzigen, den von Anfang an klaren Prozess abspult. Die Wahrheit des Endes dieser seltsamen Beziehung liegt nicht so sehr im sozialen Umfeld, den der Film sich wählte, als in der Wahl des vermeintlichen Höhepunktes (als ewiges Plateau), den Jan sich nur als exotisches Urlaubsland vorstellen kann. Die Irritation durch andere, die der Film sehr schön herausstellt, ist zeitlich begrenzt. Insofern ist auch die bevorzugte sexuelle Praktik von „Verfolgt“ nicht paradigmatisch. Maccarones Film wirkt wie eine Parabel auf die oft eben auch lächerliche Seite des „Vollzugs“, die einen immer dann angrinst, wenn die Rüstung fehlt. Dessen andere Seite ist die Routine. Und wie traurig ist das denn.

 

Dieter Wenk (12.06)

 

Angelina Maccarone, Verfolgt, D 2006, Kostja Ullmann, Maren Kroymann