7. Januar 2007

Urlaute, panisch

 

Oh! Ah! Ieh! Das Leben in der grotesk-bunten und doch erbarmungslos tristen Welt Lewis Trondheims ist bestimmt von drei Ausrufen, Urlauten im besten Sinne; denn der einsame Titelheld in Trondheims "Mister I", ein in die Länge gezogener Nachfahre des kugelrunden "Mister O",  ist buchstäblich ein armes Würstchen, das von den niedersten Trieben des Lebens getrieben wird: Habgier, Hunger und Brutalität. Gilt doch im Trondheim-Kosmos, vom mittelalterlichen "Donjon" bis zu den Science-Fiction-Szenarien in "Kaput & Zösky", vor allem das inoffizielle erste Elementargesetz: das des Fressens und Gefressen-Werdens. So lässt sich, auch wenn das Leben und Sterben in den 30 Geschichten "Mister I"s ohne Worte verläuft, der schematische Handlungsverlauf der Bildfolgen stets auf dieselben drei Buchstaben reduzieren:

 

Oh! Der Laut der freudigen Überraschung: Der stets hungrige Mister I stößt auf Essbares, einen zufällig in einem Fenster stehenden Braten, eine Frucht, die viel zu hoch an einem Baum hängt, oder ein niedliches, gleichwohl verzehrbares Tier, ein Häschen oder einen lustig vor sich hinpfeifenden Vogel. Mister I freut sich.

 

Ah! Der Laut  der unliebsamen Überraschung: Nachdem der Braten gestohlen, die Frucht vom Baum geholt, der Hase erschlagen ist, kommt eine zweite Partei ins Spiel, die Mister I leider nicht nur in seiner Einfalt übertrifft, sondern auch in Sachen Kraft und Geschicklichkeit. Mister I hat Angst.

 

Ieh (in anderen Comics auch: Uff!)! Der Laut des Sterbens. Egal, wie sehr es noch danach aussah, dass Mister I es diesmal schaffen würde, seine Beute zu behalten – das Ende aller Geschichten ist stets dasselbe: Mister I liegt in einer Blutlache, erschossen, erschlagen, aufgespießt oder einfach nur beiläufig aufgegessen und ausgeschieden. Und die gute Nachricht: Mister I muss dieses Martyrium, das, man ahnt es, eine Art Parabel unseres Lebens ist, immer und immer wieder von vorne durchstehen. Auf der nächsten Seite ist er schon wieder lebendig und macht dieselben Anstrengungen, die ihn vormals ins Unglück stürzten, erneut.

 

So sind das, was Trondheim in "Mister I" versammelt, letztlich höchst amoralische Geschichten, die in manchen Lesern trotzdem sicher eine gewisse Gaudi an den abgefahrenen sadistischen Einfällen ihres Autors wie auch zunehmend Mitleid für ihren Antihelden aufkommen lassen werden. Denn sogar das einzige Mal, da Mister I einmal gut und richtig handelt, als Lebensretter reichlich belohnt wird und sich endlich all das leisten kann, für das er vorher 29 Mal litt und starb, ist er zuletzt der Dumme. Ach, Mister I!

 

Trondheims extrem minimalistischer Stil passt zu diesem erbarmungslosen Plot nahezu perfekt und stellt in ihrem Variantenreichtum das eigentliche Lesevergnügen dar: Wie schon in "Mister O" beinhaltet jede Seite genau eine Geschichte, die in 6 mal 10 Bildern erzählt wird – so klein gezeichnet, dass einem die Augen vor Anstrengung, Vergnügen und zugleich Schrecken tränen. "Lustig" sind hier nur die grellen Farben und die auf den ersten Blick süßen Tierchen, die grotesken Kugel- und Strichmännchen, die sich jedoch bald ohne Ausnahme als Teil des Trondheimschen Kosmos des Schreckens herausstellen.

 

Aufgrund dieser geballten Portion von Sadismus in kaugummibunter Verpackung empfiehlt sich aber nur gemäßigter Konsum des Bandes.

 

Thomas von Steinaecker

 

Lewis Trondheim: Mister I. Reprodukt Verlag 2006

 

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