2. Dezember 2006

Auszug aus Platos Höhle

 

Es dauerte immerhin einige Jahre nach den ersten privaten und öffentlichen Vorführungen von „Lichtspielen“ ab 1895, bis sich die „Idee“ von Film im umfassenden Sinn durchsetzte, die wir heute mit Kino vor allem als „abendfüllendem Spielfilm“ in Verbindung bringen. Aus technischen Gründen dauerten die Film-„Inkunabeln“ meist nicht länger als eine Minute, und bevor überhaupt die ersten „Nickelodeons“ gebaut wurden, fanden die frühesten Präsentationen von Filmen auf Jahrmärkten statt, was für die Reputation des neuen Mediums nicht gerade förderlich war – nichts weniger als der Untergang des Abendlands stand für manche dabei auf dem Spiel. Die von Metzler in einer Sonderausgabe vorgelegte „Geschichte des internationalen Films“ unterteilt die nun mittlerweile gut hundertjährige Kinogeschichte in drei Blöcke, deren Absetzungen sich vor allem aus dessen technologischer Entwicklung ergeben wie etwa dem Übergang von Stumm- zu Tonfilm um 1930 und der Revolutionierung der Kino-Erfahrung um 1960 mit Breitwand und Stereobeschallung. Die technische und wirtschaftliche Entwicklung des Phänomens Kino war zunächst eine rein europäisch/US-amerikanische. Schon früh setzt Hollywood mit seinem Studiosystem dem Kino mittels der Integration von Produktion, Vertrieb und Vorführung seinen Stempel auf und zeigt damit unmissverständlich, inwiefern Kino, mehr als jedes andere Kunst- oder Unterhaltungsphänomen, eine massive industrielle Grundlage benötigt. Kein Wunder, dass nach Ende des Ersten Weltkriegs Europa dem Konkurrenten aus Amerika nicht viel entgegen zu setzen hatte. Wo sich eigenständige Kinostrukturen ausbildeten wie zum Beispiel in Japan, traten spezifische Realisierungen des neuen Phänomens auf wie etwa die erzählerische Ergänzung des ja noch sprachlosen Films durch die so genannten „Benshi“, die vor Ort dem Publikum in häufig reicher Ausschmückung den Inhalt des Gesehenen mitteilten, quasi als lebendige Untertitel. Die Position der Benshi war so bedeutend, dass Japan erst mit einigem zeitlichen Rückstand, Ende der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, endgültig die Phase des Stummfilms hinter sich ließ. Verglichen mit den damaligen „Filmpalästen“ scheinen die heutigen Multiplex-Abspielbasen eine in jeder Hinsicht abgespeckte Version zu sein, und wo findet man heute die Möglichkeit, die Kinder zur Betreuung abzugeben, während die Erwachsenen sich amüsieren? Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem Tonfilm in der Zeit von 1930-1960, die den Siegeszug und die klassische Zeit Hollywoods einschließt. Darüber hinaus werden die wichtigsten Genres des Hollywood-Kinos vorgestellt wie Western, Musical, Kriminalfilm und fantastischer Film. Zuletzt erhält der Leser eine Übersicht über die jeweiligen „Nationalen Kinematografien“, die aus systematischen Gründen die Einbindung der Stummfilmzeit der Länder bzw. Zonen beinhaltet, die im ersten Großkapitel nicht eigens genannt wurden. Mit dem massiven Einbruch der Zuschauerzahlen weltweit vor allem durch die unaufhaltsame Verbreitung des Fernsehens geriet Hollywood in eine ernsthafte Krise, auf die es durch den Rückgriff auf Techniken, die teilweise bereits seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts bereitstanden, reagierte: nämlich den Umbau des Kinos zum Breitbandfilmerlebnis einschließlich der Bespielung des Raums durch Stereo Ende der 50er Jahre. Freilich war das Fernsehen nur der erste Kandidat an ernsthaften Herausforderern des Kinos, aber wie auch immer, die Gefahr wurde letztlich immer aufgrund struktureller Weiterentwicklungen Hollywoods selbst zu einem wichtigen Motor der Integration der Bedrohung, sei es die Erfindung des Videorecorders und die weitere Abkoppelungsmöglichkeit des Zuschauers von Kino und Fernsehen oder die Bewirtschaftung von Drive-Ins, die in den USA zeitweilig proportional mehr Zuschauer anlockten als die Kinos. Das dritte Großkapitel („Der moderne Film ab 1960“) analysiert außerdem die Rolle der Schwarzen im US-amerikanischen Film, das Ereignis Blockbuster (das ja zunächst einen Film bezeichnete, der die fixen Blockbuchungen aufsprengte – aufgrund seines schieren Erfolgs an den Kassen), beleuchtet – verglichen mit dem Haupteinnahmegebiet „Mainstream“ – eine Reihe von Grenzbezirken wie den neuen Dokumentarfilm, den Avantgardefilm oder den Kunstfilm. Wie im zweiten Kapitel auch werden abschließend die „Filmregionen der Welt“ vorgestellt, wobei die jeweiligen Autoren der Artikel versuchen, die zu erwartenden Zukunftschancen der Länder hinsichtlich ihrer Konkurrenzfähigkeit auf dem heiß umkämpften Filmmarkt auf den Punkt zu bringen. Dieser Ausblick liegt für den deutschen Leser leider jetzt schon zehn Jahre zurück, denn die deutsche Ausgabe ist eine Sonderausgabe der bereits 1996 in England erschienen „Oxford History of World Cinema“ und musste auf Grund des Umfangs um die Einzelporträts von Schauspielern, Regisseuren etc. gekürzt werden. Gleichwohl ist die „Geschichte des internationalen Films“ sehr zu empfehlen, nicht zuletzt wegen der Übersichtlichkeit, des konzisen Überblicks und des Einblicks in die Bereiche, die Kino eben auch ausmachen wie die industriellen Strukturen, ohne die gar nichts geht. Jeder Abschnitt gibt abschließend weiterführende Literaturhinweise, am Ende des mit zahlreichen Schwarzweiß-Fotografien bebilderten Buchs findet der Leser eine Bibliografie sowie Personen- und Filmtitelregister.

 

Dieter Wenk (10.06)

 

Geoffrey Nowell-Smith (Hg.), Geschichte des internationalen Films, aus dem Englischen von Hans-Michael Bock und einem Team von Filmwissenschaftler/innen. Sonderausgabe, Stuttgart, Weimar 2006 (Metzler)

 

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