29. November 2006

Heute ist immer anders

 

Obwohl dieser Roman der schwedischen Autorin Karin Boye (1900-1941) schon in allerlei deutschen Verlagen publiziert worden ist, wäre es wohl irreführend zu sagen, dass sowohl „Kallocain“ als auch Boye hierzulande populär seien. Zwei Wege führen allerdings direkt ins Ziel. Zum einen die Beschäftigung mit negativen Utopien (Dystopien) à la Orwell und Huxley, zum anderen die Erkundung von Schweden als Exilland in der Zeit des Nationalsozialismus, wo man natürlich auf Brecht stößt, auch auf Peter Weiss, und wenn man in Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“ abtaucht, liest man im zweiten Teil auch ein Portrait der schwedischen Dichterin, die 1941 Selbstmord beging. „Kallocain“ wurde 1940 in Schweden zum ersten Mal publiziert, und die Autorin wusste, von was sie sprach, denn sie hatte sowohl die Sowjetunion als auch Nazi-Deutschland in den 30er Jahren bereist. Der Roman ist denn auch weder antisowjetisch noch antifaschistisch als vielmehr antitotalitär. Die Opposition ist nicht links-rechts oder fortschrittlich-reaktionär, sondern kollektivistisch-individualistisch. Karin Boye schildert das Erwachen aus dem kollektivistischen Dämmer am Beispiel des Chemikers Leo Kall, der im so genannten Weltstaat lebt, auch wenn dieser noch nicht die ganze Erde überzogen hat. Kall ist unglücklich verheiratet, hat drei Kinder, die dem Staat gehören, und ist ziemlich ambitioniert, dem Staat bei dessen immer weiteren Perfektionierung zu helfen. Da bei Kall wie in der Ideologie seines Landes die Gesellschaft schmittianisch mit dem Staat zusammenfällt, ist jede Privatheit, jede Eigenheit verdammenswert. Der Einzelne hat seine Sicherheit vor dem Feind, er hat zu Essen, seine Arbeit (in Städten wie der Chemiestadt oder der Schuhstadt), er hat vielleicht einen Ehepartner (auch wenn das Schlafzimmer vom Polizeiauge und -ohr überwacht wird), aber darüber hinaus gibt es keine Freiräume, und wenn, dann nur im Sinne des Verdachts. Kall entwickelt einen Stoff, ein Wahrheitsserum (das nach ihm benannte Kallocain), das dem Staat neben der äußeren Kontrolle auch die innere über die Gedanken des Einzelnen beschert. Die Versuchspersonen vom „Freiwilligen Opferdienst“ beweisen aufs Schönste, dass ihnen in der Zeit der Wirkung des Mittels keine Scham und keine Rücksicht den Mund verschließen. Man ahnt es schon: Wenn man die Dinge auf sich selbst anwendet, kommt man in Teufels Küche, und so sagt denn auch Kalls Vorgesetzter Rissen, dass keiner über 40 ein reines Gewissen habe. Rissen ist die Verkörperung des Risses, der durch die Leute geht und den sie mehr oder weniger gut verbergen, vor sich und vor anderen. Irgendwo soll es eine subversive Gruppe geben, die Sekte der Toren, die eine ziemlich große Ähnlichkeit haben mit all denen, die selber gern nicht ganz im Staat aufgehen wollen. Aber gerade in dem Moment, wo Kall klar wird, dass er bisher gegen sich selbst gelebt hat, dass es da einen Rest gibt, der nicht dem Staat gehört, kommt es zu einer feindlichen Übernahme des Weltstaats durch einen nicht näher spezifizierten, sich Universalstaat nennenden Gegner (keine Schlachtengemälde!), der aber nicht weniger kollektivistisch ist. Zum Glück haben wir das alles heute restlos hinter uns gebracht, und stolz verkünden wir, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist.

 

Dieter Wenk (11.02)

 

Karin Boye, Kallocain, Roman aus dem 21. Jahrhundert, Kiel 1984 (Neuer Malik-Verlag)