16. November 2006

Bilder aus Amerika

 

Was Holger Ernst in seinen Spielfilm-Erstling “The House is Burning” an dramatischen Ereignissen hineinsteckt, hätte locker für sechs abendfüllende Produktionen gelangt. Das ist immerhin schon mal ein Hinweis darauf, dass Ernst nicht an Psychologie interessiert ist. Der Zuschauer hat es in diesem „Haus“ mit einer fiktional erzeugten Wucherung des Schlimmen zu tun. Welche Figuren auch vorgeführt werden, sie alle stehen kurz vor dem Abgrund, der sie wie ein Magnet anzuziehen scheint. Und dieser Abgrund ist eben nicht nur einer gesellschaftlicher Missverhältnisse, sondern auch einer, der vom Drehbuch als Magnetverstärker miterzeugt wird. Paradoxerweise bringt diese Verstärkung das gesellschaftliche Desaster wieder auf Distanz. Es ist, als ob man sich befreien müsste von den abschließenden Litaneien, Klagen, Tränen, Katastrophen der Figuren, die in ihrer unbarmherzigen Abfolge eine Gegenreaktion wachrufen. Es ist die berechtigte Flucht vor negativem Kitsch. Denn nichts anderes ist es, was Holger Ernst dem Zuschauer zumutet. Die gesellschaftliche Realität ist aber nicht nach der Logik des Einakters strukturiert. Und diese Ausschließlichkeit, diese Fatalität muss man dem Film vorwerfen. Nichts geht dabei auf das Konto der Schauspieler, die alle großartig sind. Jeder für sich ist absolut glaubwürdig, jede Situation könnte man sich genauso vorstellen, aber unter der Hand wächst sich der Film zu einem Horrorfilm aus, und die tausend klagenden und weinenden Augen, die am Ende am Stück gezeigt werden, möchten den Zuschauer dazu zwingen, gleich am nächsten Tag zum Sozialamt zu gehen oder gleich zum entsprechenden Minister, um die Missstände doch bitte möglichst schnell abzuschaffen. Es gäbe viel zu tun: Familien, deren Mitglieder einander entfremdet sind, Teenager, die Drogen nehmen, Männer, die zu lange arbeitslos sind und ihr Selbstwertgefühl verlieren, Kriegerwitwen, die vom Alkohol und der Zigarette nicht loskommen, der zwiespältige Schönheitskult nicht nur der amerikanischen Gesellschaft, die faschistische Inkulpationsstrategie amerikanischer Kirchen. Dieser ganze Sumpf wird präsentiert, als Mike, einer der Rekruten der Verliererrotte, dabei ist, seine Familie, Freunde und Freundin zu verlassen, weil er sich entschieden hat, zur Armee zu gehen, deren Opfer früher sein eigener Vater geworden war. Zum Abschied hat Valerie, seine Freundin, ein Abschiedsfest für ihn organisiert, nur wird es für Mike auch ein Abschied von Valerie, die Schluss macht mit ihm. Nutznießer dieser Ablösung ist Phil, ein kleiner Drogenhändler, der behauptet, gerade ein ganz großes Ding zu drehen. Dessen Freund Jason, der viel äußere Ähnlichkeit mit Ronaldino hat, ist schon ganz zum bloßen Konsum von Drogen übergegangen, da läuft nur noch Abhängen und Abhängen vom Abhängen. Der junge Steve ist noch nicht in dieser Phase des Frührentnerdaseins angelangt, er hat eine kleine Abrechung mit seinem Vater zu besorgen, der selber schwerst gesellschaftlich angeschlagen ist, und der Zuschauer darf die Konklusion ziehen, dass hier ganz falsch Opfer der Gesellschaft auf Opfer der Gesellschaft aufeinander losgehen, anstatt die Probleme da anzupacken, wo sie entstehen. Aber wo genau entstehen eigentlich gesellschaftliche Probleme? Jedenfalls gibt es auch unschuldige Opfer, die noch nicht selbst Dreck am Stecken haben wie die kleine Stella, deren Ohren etwas näher dem übrigen Kopf angenähert werden sollen, was natürlich in der dauerdramatischen Logik des Films nicht ohne Probleme abgeht. Jede Einstellung zeigt so eine Fratze, verstümmelte Engel, angeschossene Hunde, lebensentsetzte Gesichter, und was ganz wunderbar in einer Serie hätte entfaltet werden können, packt Holger Ernst in einen knapp hundertminütigen Film, der vor Schwere untergeht.

 

Dieter Wenk (11.06)

 

Holger Ernst, The House is burning, D 2006, Harlez Adams, John Diehl, Erik Jensen, Melissa Leo, Julianne Michelle, Joe Petrilla, Robin Tazlor, Nicole Vicius