Parabel und Politik
Die Welt hat schon viele Herrschaftsformen hervorgebracht, eine jedoch bislang noch nicht, nämlich die des Verbrechens. Man wüsste nicht zu sagen, wie eine solche Herrschaft auszusehen hätte, wer sie begründen oder in wessen Interesse für sie gekämpft werden sollte. Man wüsste nicht, auf was man sich da einlässt. Fritz Langs „Das Testament des Dr. Mabuse“, sein zweiter Mabuse-Film nach „Dr. Mabuse, der Spieler“, stellt nun genau eine solche Figur vor, eben jenen Dr. Mabuse, der sich anheischig macht, eine Herrschaft des Verbrechens zumindest mit vorbereiten zu wollen. Aus dem Testament geht aber nicht hervor, wozu das gut sein soll. Bedenkt man den Aufenthaltsort des Doktors, sollte man auch nicht zu lange nachfragen. Er steckt im Irrenhaus und schreibt im Grunde die Apokalypse noch mal auf, diesmal aber von Menschenhand geplant und nicht mehr abhängig von einem „Go!“ von ganz weit oben. Aber vielleicht steckt in Mabuse der Rest eines Anarchisten, der, bevor die gute Form beginnen kann, zunächst erst mal alles „amorph“ werden lassen muss, gewissermaßen die generalisierte „letzte Lockerung“ in Richtung Weltrevolution. Empirisch lässt sich das Gegenteil nicht beweisen, andererseits: Wer hat Interesse an der totalen Auflösung, die den eigenen Untergang mitbeschlösse? Es ist also schon ein eher wahnsinniges Projekt, das sich der Doktor da ausdenkt, aufschreibt und dem ihn behandelnden Arzt, dem Dr. Baum, zum Studium übergibt. Baum hat allerdings nicht die Möglichkeit, den Text einem objektiven Studium zu unterziehen, ist er doch von Anbeginn im psychopathologischen Einzugsgebiet seines Patienten. Nicht der Patient erleidet hier die Zwänge, die sich aus den Forschungsfantasien des Wissenschaftlers ergeben, vielmehr wird Baum zum Anhängsel Mabuses. Im Laufe des Films gelingt letzterem die totale Besetzung, noch nach seinem Tod wird der Geist Mabuses in Baum eindringen und die Fremdherrschaft perfektionieren. Die Fixierungen bzw. Pendelbewegungen zwischen zwei Positionen auf der Seite des Irrenhauses (Mabuse als total fixiert, Baum als jemand, der zunächst noch eine private Restexistenz hat) spiegeln sich auf der Seite der die Vernichtungsaktionen ausführen sollenden Bande, deren Mitglieder entweder völlig hörig oder nicht ganz gefestigt sind wie die Figur des Thomas Kent, der schlafwandlerisch zwischen seinem „Beruf“ des Kollaborateurs zur Weltvernichtung und seiner bürgerlichen Aufgabe schwankt, im wirklichen Leben wieder Fuß zu fassen, richtige Arbeit zu finden (etwas als Polizist) und eine Frau zu lieben. Letztere ist auch schon da und wartet nur darauf, nach dem geforderten Zeitplan von gezeigter Sympathie, von einer Frau zu erwartender erster Scheu und Bitte um Aufschub mit dem gleichzeitig gefunkten Signal, dass sie es Ernst meint, es mit Thomas versuchen zu wollen. Dr. Mabuse und sein Plan, das zeigt der Film, geht nicht an der Polizei oder der Anstalt zugrunde, sondern an einer Frau, deren beharrende Zuneigung mindestens genauso kräftig ist wie die tödlichen Bannstrahlen des wahnsinnigen Mabuse. Liebe ist also mal wieder stärker als der Tod, Kent gibt sein Schwanken auf, es bleibt ihm nach einer Entführung auch gar nichts anderes übrig, weil er um sein und ihr Leben kämpfen muss, und im Bunde mit dem Kommissar Lohmann geht dann alles recht zügig zum Guten aus und der Schrecken, den Mabuse sähen wollte, bleibt aus. Am Ende zerreißt Baum das Drehbuch des Terrors, mittlerweile sein eigener Patient geworden, an Simulation denkt jetzt keiner mehr, Lohmann überlässt Baum seinem Schicksal. Eigentlich sollte man denken, dass Parabeln, Fabeln und Ähnliches deshalb gemacht werden, um sie vor einer zu direkten Anbindungsmöglichkeit an die Wirklichkeit zu schützen. Bei allem Schrecken, der den Hintergrund dieses Mabuse-Films ausmacht, hat Fritz Lang damit doch keinen politischen Film gedreht. Die Ironie der Realgeschichte zeigte, dass man ihn, noch bevor er in den deutschen Kinos gezeigt werden konnte, von den gerade die Macht übernommen habenden neuen Herrschern dazu gemacht hat, indem man ihn als ersten Film während der Nazi-Ära verbot. Diese Tat zeigt recht deutlich, dass Fritz Langs Genie weniger die Geschichte des Films betrifft als die im Grunde ja die Verhältnisse von Leuten strukturierenden Einflusszonen, seien diese nun telegen, telepathisch, erogen oder medial bestimmt. Genau in diesem schwierig zu beobachtenden Bereich muss man nur die eine Kategorie gegen die andere austauschen (man kann von Manipulation, Lenkung, Steuerung oder Überzeugung sprechen), und schon hat man die Staatskanzlei gegen das Irrenhaus gewechselt. Die Idee des Totalen, die dahinter steht, lässt die ästhetische Unterscheidung zwischen Parabel oder Dokument zweitrangig werden, denn die Parabel wäre hier nur ein schlechtes Versteck für eine Observation, die wie und wo auch immer lieber im Dunkeln bleiben mag, um nichts von ihrem Mechanismus preisgeben zu müssen. Die Geschichte hat Fritz Lang erst seinen eigenen Film erklärt. Es gibt keine bessere Begründung für einen guten Film.
Dieter Wenk (11.06)
Fritz Lang, Das Testament des Dr. Mabuse, D 1933, Oscar Beregi, Gustav Diessl, Rudolf Klein-Rogge, Otto Wernicke