13. November 2006

Politik als Operette

 

Diesem Dokumentarfilm von Thomas Tielsch liegt das linke Flügelstück von Louis-Ferdinand Célines Deutschland-Triptychon, das chronologisch gesehen dessen Zentrum ist, zugrunde, nämlich „Von einem Schloss zum anderen“, und das ganz wörtlich, denn es wird viel daraus vorgelesen, vor allem natürlich von den Zuständen im Schloss dieser Schlösser, dem in Süddeutschland gelegenen Hohenzollernschloss in Sigmaringen, dem Ort also, wohin die damalige deutsche Führung die im eigenen Land, also Frankreich, gefährdete Vichy-Regierung zitiert hatte. Sigmaringen war eine Enklave, extraterritoriales Gelände Frankreichs in Nazi-Deutschland, in Berlin legte man wert darauf, dass der Schein der Regierungsmöglichkeit gewahrt blieb und de Gaulles Rückkehr von London nach Paris regierungstechnisch ohne Auswirkung blieb, da die rechtmäßigen Amtsinhaber ja noch tagten, nur eben an einem etwas seltsamen Ort, den der Marschall Pétain, Chef der Exilregierung, niemals als Amtssitz akzeptierte. Der Schein geriet also nicht zum Sein, sondern zum doppelten Schein, zu einem gespenstischen Aufenthalt, wo es nichts zu entscheiden gab bis auf die Notwendigkeit, die eigene lastende Präsenz ab dem Herbst 1944 zu verwalten. Der Arzt und Schriftsteller Céline stößt auf die Schloss-Truppe von Berlin kommend, wo die Lage für ihn zu gefährlich geworden ist. Céline hatte die literarische Welt durch seine seit 1937 erscheinenden antisemitischen Pamphlete skandalisiert. In Sigmaringen stoßen Kollaborateure auf Kollaborateure. Auf dem Schloss hofft Céline, auf La Vigue, den bekannten französischen Schauspieler, zu stoßen, mit dem er bereits die ersten Erfahrungen auf seiner unfreiwilligen Reise durch Deutschland gemacht und den er im Nordosten Deutschlands aus den Augen verloren hatte. Als prominente Persönlichkeit darf Céline im Schloss residieren, zweifellos eine Auszeichnung, wenn da nicht die fatale Lage seines 12 qm großen Zimmers, das er sich mit sechs Leuten teilen musste, gewesen wäre, das sich nämlich direkt gegenüber den Latrinen des Schlosses befand. Es ist grundanständig von Tielsch, Céline bei der grotesken Beschreibung dieser katastrophalen sanitären Verhältnisse, die natürlich, wie fast immer, ihre literarische Überhöhung (wenn das Wort bei Céline überhaupt am Platz ist) erfahren, fast ganz das Wort zu überlassen und das in Rede stehende Dokument nur ganz verhalten, fast poetisch, zu präsentieren, denn so viel Scheiße, wie dort geflossen sein muss, kann man gar nicht mit der Kamera einfangen. Es ist also so, dass der Text den Film trägt. Neben Célines Text stellt Tielsch Erinnerungen von Zeitzeugen, aber sehr zurückgeschraubt und immer ästhetisch behandelt (also nur ganz kurz eingeblendet, überlagert durch andere Stimmen), sowie Fakten aus den lokalen Kriegsannalen, wozu auch ein Besuch ins Krankenhaus gehört, wo die härtesten Bilder des Films zu sehen sind, Amputationen, Operationen, Kriegswunden. Natürlich fällt es schwer, die Stimme des deutschen Rezitators mit Célines rasendem Organ (das in diesem Film nicht erklingt) in Verbindung zu bringen, denn die akustische Hektik des Franzosen ist ein direktes Spiegelbild der graphischen Präsentation auf der Buchseite, also die Sache mit den drei Buchstaben, das Forteilen, das Assoziieren, Wiederholen etc. Der Autor, Céline, begegnet dem Zuschauer als Liegender (Statist), im fiebrigen Zustand, fast delirierend, und es ist doch nichts anderes als die nackte Klarheit, die aus den Zeilen Célines drängt. Man glaubt, einem alten Mann zuzuhören, einem weisen Märchenerzähler, der beim Erzählen fast einzuschlafen droht, während Célines bewährtes Transportmittel, metaphorisch gesprochen, die Metro ist. Diese Bewegung des Texts versucht der Film durch das Zusammen- oder Auseinanderfließen der Bilder zu gestalten, man sieht eigentlich immer mindestens zwei Realitäten, die sich eine Zeit lang zusammen halten und durch Überblendung dann anderswo weiter gemischt und ersetzt werden. Aufnahmen, Fotografien aus der alten Zeit werden mit solchen aus der Gegenwart vermengt, die auf eine andere Art gespenstisch wirken, weil man den Eindruck erhält, das hier etwas Fundamentales fehlt, das man vielleicht Leben nennen könnte, Leben, das sich sechzig Jahre zuvor ebendort zugetragen hatte, in seiner finstersten, aber auch, daran lässt Céline keinen Zweifel, absurdesten, ja auch lächerlichsten Form. Der Film ist ein guter Einstieg in das Werk von Céline: Man will mehr lesen, selber lesen.

 

Dieter Wenk (11.06)

 

Thomas Tielsch, Die Finsternis, D 2005