12. November 2006

Revolutionskarrieren

 

Man muss nicht Marx gelesen haben, um bei bestimmten Gelegenheiten zu merken, wem die Stunde geschlagen hat. Dass die Säbel des Zaren nicht dazu dienen, die hungrigen Mäuler der armen Leute zu füllen, begreift sogar ein scheinbar ganz unpolitischer Juri Schiwago. Fassungslos muss er mit ansehen, wie der Schnee auf Moskaus Straßen mit dem Blut unschuldiger Frauen und Kinder besudelt wird. Auf der anderen Seite ist es dem Doktor hoch anzurechnen, dass er nicht völlig ausrastet oder zynisch reagiert, als er sieht, dass im Hause seines Schwiegervaters nach der Machtübernahme durch die Räte nicht mehr so viel Platz für die Stammfamilie übrig bleibt und die neuen Blockwarte mit der alten Ordnung auch die am selbstverständlichst erscheinenden Dinge wie Respekt oder Höflichkeit gleich mit über Bord geworfen haben. Der Antikommunist hat hier leichtes Spiel, dem neuen Regime völlige Herzlosigkeit, fehlenden Humor und Mangel an flexibler Einstellung vorzuwerfen. Die beiden älteren hässlichen Herrschaften, die da den Doktor nach aufopferungswilliger Leistung im Krieg gegen die Deutschen eben nicht entsprechend willkommen heißen, sind natürlich der letzte Dreck, Aufsehermentalitäten, perfekt für den Gulag oder fürs KZ. Schiwago regt sich also nicht auf, sondern bestätigt die Meinung der neuen Herrscher, dass es jetzt so viel besser und gerechter verteilt ist. Dass man ja erst am Anfang einer Bewegung steht und, was er ganz klar sieht, dass es kein zurück mehr gibt. Der Zar wird ermordet? Ein Zeichen, so der Doktor, dass diese Vergangenheit endgültig vorbei ist. Die Verabschiedungsbereitschaft Schiwagos hat auf der anderen Seite der Zeitbetrachtung, der Zukunft, keine Entsprechung. Er zeigt unendliche Güte und großes Verständnis, aber er hat keine Vision. Er ist aber auch kein Mitläufer. Viel eher wird er von der Zeit mitgerissen, wie von den roten Partisanen, die sich seiner als Arzt bedienen. Für die Fortschrittsideologie oder das Mitläufertum sind andere zuständig, so Pascha, der Mann Laras, auf die Juri unsterbliche Gedichte dichtet, die natürlich vom neuen Regime sofort auf den Index gesetzt werden, oder Juris Halbbruder, ein mächtiger Sowjet, oder auch Gregor, Lebemann unter dem Zaren und zukünftiger Minister im Osten des Reiches unter Stalin. Denn es muss ja auch noch eine Liebesgeschichte geben in diesem Historienschinken, die natürlich auch hier nicht mit der Affäre mit der eigenen Ehefrau identisch ist. Schiwago ist gewillt, die politischen Verhältnisse, deren Fatalität ihm doch so früh vor Augen getreten war, wegzuschieben, um mit einem fast blind zu nennenden Willen die jeweils anstehende Situation mit den Frauen zum Besten zu führen. Dass er dabei wie ein Spielball der kleinen menschlichen Götter der sich bekämpfenden weißen und roten Rotten hin und her und von der einen Frau wieder zur anderen Frau hingeschoben wird und das Ganze noch mal, das löst bei ihm nicht die Reaktion aus, selber zu versuchen, mitzubestimmen, dadurch dass er sich einer Partei anschließt. Er bleibt frei, aber auch vogelfrei. Seine angeblich reine Menschlichkeit verdammt ihn zur bloßen Reaktion, die immer voller Güte und Verständnis ist. Schiwago wird geliebt und – benutzt. Er ist ein Narr mit großem Herzen, dem zuletzt das Herz zerbricht angesichts der Liebe, die er nicht halten kann. Es ist schwer, bloß mit der richtigen inneren Einstellung das Leben zu bestreiten. Zu schnell wird man von zu vielen und falschen Leuten geduzt, wenn man’s selber gar nicht braucht.

 

Dieter Wenk (11.06)

 

David Lean, Doktor Schiwago (Doctor Zhivago), USA 1965, Musik: Maurice Jarre; Omar Sharif, Julie Christie, Geraldine Chaplin, Rod Steiger, Alec Guinness, Klaus Kinski