9. November 2006

Stringentes Intermezzo

 

Wenn ein menschliches Feld zum Beispiel in Form einer Familie aufgemischt wird, haben die dort Lebenden Gelegenheit, neue Züge an sich selbst oder anderen wahrzunehmen. Das tut manchmal richtig weh, muss aber nicht sofort mit Sozialkritik verwechselt werden, wenn eben darauf ein Filmer die Kamera draufhält. Matthias Luthardt beginnt also ganz klassisch in seinem ersten abendfüllenden Spielfilm. Ein Junge steigt die Treppen zu einem Einfamilienhaus hoch, und man weiß sofort, dass der Junge hier nicht wohnt, den Ort aber ganz gut kennt. Vielleicht will er einen Freund zum Sport, zum Tischtennis, abholen? Die Sporttasche dient hier aber als Reisetasche, und Paul, der Junge, will bei seinem Onkel, seiner Tante und deren Sohn Robert Urlaub machen. Weil er es zu Hause nicht mehr aushält. Der Vater Pauls hat sich umgebracht, die Mutter kommt damit nicht klar. Außerdem haben Onkel und Tante Paul bei der Beerdigung großzügig angeboten, zu jeder Zeit willkommen zu sein. Als Sechzehnjähriger versteht man die Feinheiten zwischen einer der Situation geschuldeten Höflichkeitsgeste und einem ernstgemeinten Angebot noch nicht so recht. Aber jetzt ist er da, und man muss sich arrangieren. Auch der Cousin Robert, ein bisschen älter als Paul, ist nicht begeistert. Er spielt gerade die erste Klaviersonate, Opus 1, von Alban Berg und scheint entweder mit seinem Flügel verheiratet zu sein oder als Autist völlig beziehungsunfähig. Etwas später wird man erfahren, dass der Flügel eher auf Seiten Annas, der Mutter, steht, die in ihrem Sohn die Karriere lostreten möchte, die sie selbst als „talentierte Pianistin“ vermutlich aus Familiengründen nicht verfolgt hat. Und dann ist da noch Schumann, mit dem Anna eigentlich zusammenlebt und all ihre Zuwendung erfährt, die ihr Mann und Robert entbehren. Schumann ist ein Hund, und der erste Schritt zur Weltrevolution, so könnte man manchmal denken, bestünde darin, alle Haustiere zu vernichten und jede Erinnerung an sie auszulöschen. Gleich zu Beginn des Films findet ein Tausch statt. Paul kommt, Annas Mann muss gehen, die berufliche Flexibilität fordert ihren Preis, ein einwöchiger Kongress in Spanien ruft ihn ab. Annas gutbürgerlich verbrämte Zickigkeit, die vielleicht daher kommt, dass sie etwas in ihrem Leben verspielt hat, und die Paul als erstes an ihr kennen lernen durfte, verschwindet recht schnell. Der zwar schicksalhaft angeschlagene, aber im Vergleich zu seiner Vorortvillenverwandtschaft ziemlich schnörkellos agierende Paul merkt gar nicht, wie faszinierend er auf die beiden zurückgebliebenen seelischen Untergrundkämpfer wirkt. Robert ist gar nicht in Alban Berg verliebt, sondern nur in die Flasche, die aussieht wie eine Wasserflasche, in die Robert regelmäßig hochprozentigen Alkohol füllt. Das Videospiel, das Paul mitgebracht hat, ist bald Roberts liebste Beschäftigung, wenn er Ärger mit der Mutter hat, die ihn triezt, denn sie will, dass er ihre Karriere macht. Aber die Aufnahmeprüfung wird zum Desaster, Robert fällt durch, und jeder hat gemerkt, dass er volltrunken am Flügel saß. Keine Frage, dass Paul im Verhältnis zu Robert das pflegeleichtere Kind für Anna wäre. Und vielleicht ein aufregenderer Liebhaber als ihr Gatte und ein allerdings nur einmal diskret am Telefon sich meldender Lover? Paul jedenfalls ist eifersüchtig auf Schumann. Schnell steigt er in die Rolle des Familienhauptes. Er will den Swimmingpool wieder instand setzen und einen großen Baum zurechtschneiden. Spekuliert er auf eine großzügige amouröse Abfindung? Jedenfalls lieben sich bald Paul und Anna, und Robert kriegt es natürlich mit. Als der Herr des Hauses wiederkommt, könnte man sich auf neue Fronten gefasst machen, aber keiner plaudert die Übertretung aus. Nur der Flügel wird abtransportiert, die Strafe der Rabenmutter, die es ja nur gut meinte, und ein völlig verzweifelter Robert, der seine Mutter attackiert. Am Ende ist der Swimmingpool fertig, und Schumann dreht dort seine Runden, aber er ist nicht freiwillig im Wasser, Paul hat ihn reingestoßen, und jetzt hört man nur noch das Schnaufen des Hundes, das klanglich in großer Nähe steht zu der unerbittlichen und faszinierenden Rhythmik eines geschlagenen Tischtennisballes, dessen Sound, von melancholischen Klavierarpeggien untermalt, den Film immer wieder an markanten Stellen begleitet und die jeweilige Lage auf dem Spektrum zwischen Angst und Lust auf den Punkt bringt. Opus eins. Das muss man hören.

 

Dieter Wenk (08.06)

 

Matthias Luthardt, Pingpong, D 2006, Sebastian Urzendowsky, Marion Mitterhammer, Falk Rockstroh und Clemens Berg