1. November 2006

Jarrys zweiter Coup

 

Metaphysik als philosophische Disziplin würde wohl auch entstanden sein, wenn die „Metaphysik“ des Aristoteles – rein bibliothekarisch betrachtet – nicht nach („meta“) seiner „Physik“, sondern über oder unter ihr im Bücherregal angeordnet worden wäre. Man würde sie dann vielleicht Hyper- oder Hypophysik genannt haben oder auch einfach Paraphysik (was ja auch ganz gut klingt), um anzuzeigen, dass die vierzehn Bücher der „Metaphysik“ (qua Paraphysik) neben den Büchern der „Physik“ stehen. Eine sehr späte Erfindung des 19. Jahrhunderts, das ja alles aufgehoben hat, sei es dialektisch oder positivistisch, und gewissermaßen die Krönung dieses Wissenschaftsjahrhunderts, war die ’Pataphysik, deren Bezeichnung, bevor sie als Organisation ins Leben getreten war, von dem französischen Schriftsteller Alfred Jarry stammt. Eine ihrer zahllosen Definitionen besticht durch ihre schlichte Eleganz: „’Pataphysik ist die Wissenschaft.“ (Eigentlich ging dieser Satz noch weiter, aber maßgebliche Pataphysiker beschlossen, die Universalität der ’Pataphysik durch Satzabbruch zu unterstreichen.) Alfred Jarry hatte sich bereits unsterblich gemacht durch seinen „König Ubu“, dessen szenischer Auftritt, inauguriert durch die Artikulation des Wortes „Merdre“ (zu deutsch etwa „Schreiße“) vor gut hundert Jahren für einen Skandal sorgte. Der erste wirkliche, wenn auch nicht lebende Pataphysiker war eben dieser François Ubu, der sich als Doktor der ’Pataphysik bezeichnete, und nach ihm der Doktor Faustroll, ebenfalls eine fiktive Figur Jarrys. Auf diese beiden Doktoren gehen alle späteren pataphysischen Aktivitäten zurück, denn die ’Pataphysik als Institution gab sich erst 1948 ihr Statut durch die Gründung des „Collège de ’Pataphysique“. Man darf sich durch eine weitere Definition der ’Pataphysik nicht täuschen lassen, die da sagt, die ’Pataphysik sei die „Wissenschaft der imaginären Lösungen“. Denn den Pataphysikern war klar, dass ’Pataphysik wie alle Wissenschaft zunächst einmal eine „administrative Angelegenheit“ ist. Der institutionelle Aufbau des Kollegiums könnte in der Tat vorbildlicher nicht sein. Es besteht aus zahlreichen Kommissionen, die in unterschiedliche Unterkommissionen zerfallen, deren Unterkommissionen Intermissionen genannt werden. Das Kollegium hat einen „unabsetzbaren Kurator“, der niemand anderes ist als jener Doktor Faustroll (möglicherweise, um den imaginären Charakter des Instituts zu unterstreichen, aber das ist pure Spekulation). Der jeweilige Leiter des Kollegiums, Vize-Kurator genannt, tritt in lebendiger Gestalt auf, muss aber nicht notwendigerweise menschliches Format haben (eine Ära beschloss denn auch ein Krokodil, das das Amt vom Viktoria-See aus leitete). Weitere Ämter oder Funktionen besetzen so genannte Optimaten, Regenten oder Transzendente Satrapen, von denen heute vermutlich die bekanntesten Umberto Eco und Jean Baudrillard sind. Der Grund für den Zerfall des Kollegiums in so viele Unterabteilungen besteht einfach darin, dass die ’Pataphysik – das ist eine weitere Definition – die Wissenschaft von den Ausnahmen ist. Keine Frage also, dass in einem ihrer zahlreichen Publikationsorgane dem Problem nachgegangen wird, ob Adam einen Bauchnabel hatte oder nicht. Der wissenschaftliche Charakter des Kollegiums zeigt sich nicht zuletzt darin, dass alle Phänomene als gleichrangig, also wirklich gleich behandelt werden. Die Aufmerksamkeitsbereitschaft des Collège de ’Pataphysik ist fantastisch. Vor diesem Hintergrund mag es verständlich sein, dass sich die Pataphysiker im Jahre 1975 eine kleine Auszeit gönnten (die 25 Jahre währte), die so genannte „Okkultation“ (Verdunkelung), aus der das Kollegium mit um so größerem Glanz wieder erstand. Die bereits 1960 gegründete und vermutlich auch heute noch bekannteste Unterkommission (1965 zur Co-Kommission promoviert) ist „OuLiPo“, die Werkstatt für potentielle Literatur, die zu einem Zeitpunkt den „Autor“ für tot erklärte, als dessen späterer Grabredner (Roland Barthes) noch mit der roten Fahne des epischen Theaters herumlief. Die Meta-Werkstätte all der auf „OuLiPo“ nachfolgenden potentiellen Werkstätten (Kino, Malerei, Fotografie…) ist „Ou-X-Po“, der Ort gewissermaßen, wo ein X für einen Ubu vorgemacht wird. Obwohl eingedenk der Ausnahmen und Abweichungen, die wir alle sind, die ganze Welt pataphysisch strukturiert ist, konnte „’Pataphysik. Versuchung des Geistes“ nur von einem Eingeweihten geschrieben werden, der Klaus Ferentschik als Mitglied des Collège auch wirklich ist. Der Leser erfährt auf knapp 300 Seiten, wie alles begann („Alfred Jarry und die Folgen“), Ferentschik stellt die wichtigsten Quellen vor zum Verständnis dessen, was ’Pataphysik sein könnte, schildert als Insider den Aufbau des Kollegs, nennt die bekanntesten Mitglieder (erwähnt seien hier Marcel Duchamp, Max Ernst, M. C. Fischer, Dario Fo, Ludwig Harig, Eugène Ionesco, Michel Leiris, die Marx Brothers, Harry Mathews, Raymond Queneau, Man Ray, Harald Szeemann und Boris Vian), gibt einen Überblick über die verschiedenen Publikationsorgane und Auftritte des Kollegiums und präsentiert im Anhang pataphysisches Originalmaterial, u.a. einen pataphysischen Erklärungsversuch des damals 22-jährigen Jean Baudrillard. (Als prominentester Gegner der Pataphysiker sei hier nur Guy Debord genannt.) Dieses Buch ist geschrieben mit der erforderlichen Liebe zum Detail, den wissenschaftlichen Anstrich unterstreichen die zahlreichen Anmerkungen. Natürlich ist die Welt Gaga. ’Pataphysik ist die Gaga-Welt in zweiter Potenz.

 

Dieter Wenk (08.06)

"Kultur & Gespenster" Nr. 2, Herbst 2006

 

Klaus Ferentschik, ’Pataphysik. Versuchung des Geistes, Berlin 2006 (Matthes & Seitz Berlin), Batterien 77

 

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