25. Oktober 2006

Eng wie eine Zwangsjacke

 

Die dreiköpfige Kleinfamilie mit ihren zwanghaften Ordnungen, dem Misstrauen und den Doppelbödigkeiten, die daraus entstehen, sind die Themen des Kurzgeschichten-Zyklus, den der in Wien lebende Autor Hanno Millesi sprachlich kalkuliert angelegt hat.

In den zehn formal sehr gelungenen und hermetischen Texten herrscht ein nüchterner, wohlgewählter Ton, der aus den Hirnen von Heranwachsenden unterschiedlichen Alters (dazu gehören auch Erwachsene) stammt. Nicht in direkter Rede, mehr als innere Aufräumarbeit, die auf eine bürokratisch-korrekt anmutende Weise sich an Wahrnehmungen entlangtastet, versucht sich der Erzähler jeweils einen Reim darauf zu machen, wie das ihn umgebende Rätsel, das zwei Erwachsene und ein Kind bilden, zu deuten sei. Mit einer verblüffenden Gutgläubigkeit werden die ungeheuerlichsten Vorkommnisse geschildert, als könne es gar nicht anders sein. Dem Ton wohnt dennoch ein leises Entsetzen inne, das kaum einen Groll hegt und daher durch die Ritzen des hermetischen Systems als schmaler Pfeifton dringt, der beim Lesen kirre macht. Das Kind als gefangenes Wesen im Getriebe der Weltherrschaft durch die Eltern, die wiederum Gefangene des Kindes sind.

In der ersten Geschichte „Werktagsüber“, die Millesi beim diesjährigen Ingeborg-Bachmannpreis vorgelesen hat, erzählt ein Jugendlicher, der von der Schule geflogen ist, wie er der Mutter vorgaukelt, er ginge noch zur Schule. Der Vater gab ihm den Tipp, die Mutter von seinem Versagen unbehelligt zu lassen. Bei seinen Spaziergängen im Park und auf den Straßen entdeckt der Jugendliche dann den Vater, der seinerseits schon länger nicht mehr in der Bank arbeitet und seiner Frau angeblich auch nichts davon erzählt hat. Das Verschweigen gipfelt in der Vermutung des Jugendlichen, die Mutter arbeite tagsüber heimlich, um die Familie zu ernähren. Und alle drei pflegen, als sei nichts geschehen, die normalen Verhaltensweisen, die man voneinander schon lange kennt.

Im „Experiment“ erledigt ein vermutlich Sieben- bis Achtjähriger die ihm aufgetragenen Besorgungen nicht zufriedenstellend und bringt, um die Erziehungsabsichten der Mutter zu hintertreiben, ganz andere Dinge nach Hause – die sich aber immer im preislich gesteckten Rahmen bewegen. Hinter dem Verhalten des Kindes steckt ein System, dem die verdutzte Mutter auf die Spur kommen soll. Es will sich der totalen Kontrolle und dem Beobachtetwerden durch die Eltern entziehen und dreht den Spieß um.

„Im Warenhaus“ versucht ein Erwachsener einem herumtobenden Kind zu entkommen, das ihm in den Schritt fasst und durch das ganze Kaufhaus jagt. „Heckantrieb“ schildert den Unmut eines Kleinkindes, das im geschlossenen Kinderwagen nur die immergleichen Gesichter der Eltern sieht und nichts von der Umgebung. Die Geschichte „Massnahmen“ handelt von der ungewöhnlichen Bestrafung eines Kindes, das geklaut hat. Die Eltern knüpfen sich kurzerhand den Ladenbesitzer vor und verprügeln ihn unverhältnismäßig heftig.

In „Rhetorik“ wird es noch grotesker: Ein der Sprache noch nicht mächtiges Wesen lässt sich in wohlgefeilten Sätzen darüber aus, dass seine Eltern mit ihm nur in Baby- und Lautsprache reden. Es ist ungehalten darüber, dass man ihm die Möglichkeiten der Kommunikation vorenthalten will, ihn unmündig lässt, damit es sich nicht einmischen kann in die Unterhaltungen der Erwachsenen und nicht für sein Recht kämpfen kann, sich durchzusetzen, mitzureden, und daher abhängig bleiben muss, so vermutet der Sprössling. Dachte er lange, seine Eltern sprächen mit ihm derart infantil, weil sie es selbst nicht besser beherrschen, ist er umso erstaunter, als er sie beim Ausformulieren ganzer Sätze bei einem Streit belauscht. Und das in der Sprache, die auch der Nachrichtensprecher zum Besten gibt.

Andere Geschichten handeln von Verstümmelungen, um die Ähnlichkeit zu den Eltern zu zerstören, von bizarren Kinoerlebnissen, die ein Zwölfjähriger mit seinem Vater hat, und von „Schuldbewusstsein“.

Hannomann! Es ist ein wahnwitziges Buch, eine Reise in ein Labyrinth, aus dem keiner unbeschädigt herauskommt. Nach der Lektüre dieser Versuchsanordnungen zu Bespielen des Systems dreiköpfige Familie beschleicht einen das ungute Gefühl, ein Mensch zu sein. Einer, der sagt: Ja, das habe ich auch alles erlebt, dieses Einer-redet-nicht-des-anderen-Sprache-und-Wort, dieses Aufwachsen als Schattengewächs im Dosierspender der Lieblosigkeiten und einer Bemutter- und Bevaterung, die Anstalten macht, wie nur Anstalten sie zeigen. Köstlich! Eng wie eine Zwangsjacke!

Wer das Buch nicht in einem durchliest, hat mehr davon.

 

Carsten Klook

 

Hanno Millesi: Wände aus Papier, ° Luftschacht 2006, 150 Seiten, 16.90 €

 

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