23. Oktober 2006

Überspannt

 

Der Untertitel dieser 1793 erschienenen Schrift ist betont locker: „Zur weiteren Ausführung einiger Kantischer Ideen“, als ob Schiller offen lassen wollte, ob „Vom Erhabenen“ die weitere Ausführung schon realisiert oder erst einläutet. Von welchen Kantischen Ideen ist hier die Rede? Die Schrift bezieht sich auf Kants „Analytik des Erhabenen“ seiner dritten Kritik und vor allem auf die darin getroffene Unterscheidung zwischen dem Mathematisch-Erhabenen und dem Dynamisch-Erhabenen, eine Unterscheidung, die Schiller beibehält, aber, etwas pfennigfuchserisch, umbenennt in Theoretisch- und Praktisch-Erhabenes, eine Umbenennung, der Schiller wohl selbst nicht so viel zutraut, denn am Ende heißen die beiden Elemente, quasi als Kompromiss zwischen Kant und Schiller, Kontemplativ- und Pathetisch-Erhabenes. Das Konzept des Erhabenen dient beiden Autoren dazu, die moralische Autonomie des Menschen ästhetisch ins Licht zu setzen. Die beiden Formen des Erhabenen markieren unterschiedliche Grade, inwiefern Natur dem Menschen zusetzt und ihn bei der Entwicklung erhabener Gefühle beansprucht. Wie das Theoretisch-Erhabene schon namentlich insinuiert, können hier entsprechende Gefühle quasi am Schreibtisch abgerufen werden. Hier ist nicht, wie bei der anderen Spielart des Erhabenen, der Selbsterhaltungstrieb gefragt, sondern bloß der Erkenntnis- bzw. Vorstellungstrieb, der insofern überfordert ist, als die bloße Anschauung eines Gegenstands der gleichzeitigen Forderung nach Totalität nicht nachkommen kann. Wir können immer nur einen bestimmten Ausschnitt eines Meeres sehen, nicht dieses selbst. Im Mathematisch-Erhabenen transzendieren wir eine gegebene Vorstellung als groß „schlechthin“ und unterlegen ihr eine „Eigenschaft“, die sich nur aus unserer eigenen Unmöglichkeit ergibt, über die Erfahrung hinausgehende Begriffe wie Unendlichkeit anschaulich zu machen. Im Unterschied zum Pathetisch-Erhabenen ist diese menschliche Degradation nicht existentiell im Sinne von lebensbedrohend oder furchtbar. Richtig interessant wird es erst bei der den Selbsterhaltungstrieb herausfordernden Form des Erhabenen, bei der Natur so vorgestellt wird, als würde sie den Menschen mittelbar oder unmittelbar bedrohen. Würde sie ihn unmittelbar bedrohen, müsste doch sichergestellt sein, dass der Bedrohte zuletzt nicht damit rechnen müsste, sein Leben zu verlieren, denn nur so ist es ihm möglich, der Natur gegenüber, auch in diesem Ausnahmezustand, sich ästhetisch zu verhalten, also eine gewisse Distanz zu wahren zwischen sich und der Natur. Das Schreckliche der Natur wird also am besten stellvertreterhaft erfahren, also in der bloßen Vorstellung, die aber „etwas dem Analoges“, so Schiller, produziert, „was die wirkliche Empfindung hervorbringen würde.“ Also Furcht um das eigene Leben, die nun aber, und das macht das qualitativ Stärkere des Pathetisch-Erhabenen aus, konterkariert wird durch die Erfahrung einer seltsamen Lust, nämlich sich als vernünftiges Wesen sich auch jeder noch so großen Gefahr, die von der Natur droht, als überlegen zu erweisen, sprich über sie erhaben zu sein. Die Bedrohung macht darauf aufmerksam, dass der Mensch nicht bloß ein Wesen ist, das selbst der Natur angehört, sondern das als Doppelwesen auch die Natur überschreitet und sich selbst Gesetze auferlegen kann, die sich dem Determinismus der Natur entziehen, weil sie als Vernunftgesetze einer anderen Ordnung angehören. Schiller treibt nun die Argumentation so weit, dass er sogar rigider als sein Lehrer Kant erscheint, vielleicht einen Schritt zu viel tut und die Erfahrung des „moralischen Selbst“ so weit treibt, dass das Konzept des Erhabenen selbst zu kollabieren droht, indem ihm alles Drohende genommen wird, das zu seiner Genese nötig ist. Es ist die eines Gottes würdige „idealische Sicherheit“, die hier gemeint ist, die sich nämlich über alle möglichen Fälle von Bedrohung erstrecken würde. Schiller schreibt dazu den wahrhaft pathetischen Satz: „Dieses [das Erhabene] gründet sich also ganz und gar nicht auf die Überwindung oder Aufhebung einer uns drohenden Gefahr, sondern auf Wegräumung der letzten Bedingung, unter der es allein Gefahr für uns geben kann, indem es uns den sinnlichen Teil unsers Wesens, der allein der Gefahr unterworfen ist, als ein auswärtiges Naturding betrachten lehrt, das unsre wahre Person, unser moralisches Selbst, gar nichts angeht.“ Wenn aber die letzte Bedingung wegfällt, unter der sich Gefahr meldet, dann wird hier von Schiller dem Erhabenen selbst der Prozess gemacht, dem der Boden entzogen wird, sich spannungsvoll auszubilden eben in der Doppelerfahrung des Menschen als Natur- und Vernunftwesen. Das Naturding im Menschen ist nicht auswärtig, sondern ihm inhärent. Wenn dieser Pol wegfällt, kann sich auch Vernunft nicht mehr profilieren. Wenn Schiller an einer früheren Stelle gezeigt hat, dass Erhabenheit gegenüber der Natur sich nicht einstellen kann im Verhältnis des Menschen zu einer von ihm domestizierten Natur, so beweist er, gegen sich selbst, dass das realisierte moralische Selbst das Erhabene gar nicht mehr nötig hätte. Tatsächlich hat diese zitierte Stelle in der überspitzten Form des Ausspielens der einen Natur des Menschen gegen die andere bei Schiller nicht das letzte Wort. Denn das „Leiden“ hört nimmer auf.

 

Dieter Wenk (10.06)

 

Friedrich Schiller, Vom Erhabenen, in: F.S., Über das Schöne und die Kunst. Schriften zur Ästhetik, München 1984 (dtv)