22. Oktober 2006

Dekomprimierungsgebot

 

Als Walter Benjamin 1940 seinem Leben ein Ende setzte, starb er als nahezu unbekannter Autor. Im Unterschied zu vielen anderen Schriftstellern, die noch zu Lebzeiten der Vergessenheit anheim fielen, nachdem sie eine Zeit lang bekannt waren, war Benjamin auch schon zu Lebzeiten ein nahezu unbekannter Autor. Von den zahlreichen Texten aus seiner Feder waren bis zu seinem Tode auf der Flucht gerade einmal vier in Buchform erschienen, nämlich seine Doktorarbeit („Der Kunstbegriff in der Romantik“), seine Habilitationsschrift („Ursprung des deutschen Trauerspiels“), die Kurztextsammlung „Einbahnstraße“ sowie, im Exil, auch noch anonym publiziert, „Deutsche Menschen“. Sicher, der eine oder andere mag Benjamin als Verfasser von Zeitungstexten gekannt haben oder als Sprecher eigener Rundfunkbeiträge; aber man kann nicht sagen, dass er, verglichen mit der Zeit seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, während der Weimarer Republik und anschließend in Paris prägend gewirkt hätte. Man kann sich das gar nicht mehr vorstellen, aber seine Rezeption fing tatsächlich erst sehr spät an, was u.a. Adorno zu verdanken ist. Zirka vierzig Jahre nach den ersten Sichtungen Benjamin’scher Schriften liegt nun ein Handbuch zu Walter Benjamin vor – 700 Seiten stark, zweispaltig –, und dieses Handbuch mag nun wirklich so etwas wie ein Abschluss sein, auch wenn das gar nicht beabsichtigt war. In geballter Form bringt es nämlich noch einmal etwas zum Vorschein und ins Gedächtnis, was man in den letzten Jahren und Jahrzehnten vielleicht nicht so sehr ins Visier genommen hatte, nämlich den bisweilen extrem esoterischen Charakter Benjamin’scher Arbeiten, ich denke hier zum Beispiel an seine „sprachphilosophischen“ Texte. Dieses Handbuch öffnet den Zugang zu Benjamin – alle wichtigen Schriften und Projekte werden in thematischen Blöcken, also nicht rein chronologisch, vorgestellt – ebenso, wie es ihn vielleicht erst mal erschwert. Kein Weg führt daran vorbei, alle Texte, die hier besprochen werden, selber zu lesen. Nicht, dass hier nicht philologisch sauber gearbeitet worden wäre (im Gegenteil, man erfährt sehr viel zum Beispiel über die Vorgeschichte der Texte, das aktuelle zeitgenössische Umfeld, jeweilige Freundschaften oder Gegnerschaften) oder die verschiedenen Autoren, allesamt Experten, nicht den gesamten Benjamin verinnerlicht hätten. Aber es mag sich an nicht wenigen Stellen Hilflosigkeit beim Leser einstellen, wenn er zwar immer mal wieder gesagt bekommt, dass Benjamin durchaus auch dunkle Texte verfasst habe, die durchgängigen Seltsamkeiten, die sich vor allem auch stilistisch bekunden, aber gar nicht so sehr thematisiert werden. Benjamin als Grenzgänger, als zwischen den Stühlen sitzend, weder Philosoph, noch Literat, noch Theologe, noch Revolutionär. Er ist irgendwie sein eigenes Genre. Das macht ihn natürlich für all die, für die die Grenzen ihres Faches nicht die Grenzen der Welt bedeuten, berechtigterweise auch so interessant und attraktiv. Dass vielleicht in seinen Texten und seiner unakademischen Vorgehensweise das schlummert, was man bei sich selbst als unterstelltes Geheimnis schon längst begraben hat. Vermutlich gibt es keinen anderen Autor, der so sehr wie Benjamin als Projektionsfläche herhält. Zudem es bei ihm ja immer auch um das Große Ganze geht, er ist der Gewährsmann für das, was noch aussteht, er bedient die Aktionisten durchaus im Sinne des Situationismus und er tröstet die Melancholiker, die sich alles besser gewünscht haben, mit seiner dunklen Sprache, die für sich selbst schon eine andere Welt bedeutet. Was der Leser sich beim Erscheinen dieses Handbuchs auf jeden Fall überlegen wird, ist, wie sich jetzt, wo alle wichtigen Fragen gestellt und alle Probleme formuliert sind, überhaupt noch an Benjamin vernünftigerweise anschließen lässt. Mit dieser Publikation geht man in die Phase der Dokumentation über, und zwar die der abgeschlossenen Rezeption. Benjamin „brennt“ nicht mehr. Mag sein, dass man sich hier und da noch mit ihm schmückt und seinen Namen da auratisch einsetzt, wo schon lange der Betriebsmodus des zelebrierten Zauberworts nicht mehr gelingt. Aber vielleicht ist es auch so, dass uns Benjamin als einer der obersten philosophierenden Märchenerzähler noch lange erhalten bleiben wird, und zwar auch deshalb, weil ein Handbuch wohl nicht die best geeignete Textsorte ist, um das „Genre Benjamin“ für einen Leser aufzuheben. Eine wirkliche Aneignung kann nur der jeweilige Leser Benjamins selbst besorgen, der die viel beschworene Benjamin’sche Sprache vielleicht eher manieriert finden mag oder der zum Beispiel im Falle Célines mit Erstaunen feststellen wird, wie sehr sich Benjamin bei der Einschätzung der „Reise ans Ende der Nacht“ geirrt hat, weil er bei deren Erscheinen die falsche, nämlich marxistische Brille aufhatte, die ihn die andere Revolution, die der literarischen Sprache Célines, nicht sehen ließ. Auf jeden Fall ist Walter Benjamin mit diesem Handbuch nun endlich an der Universität angekommen, nur anders und viel später, als er sich das selber gewünscht hat.

 

Dieter Wenk (10.06)

 

Burkhardt Lindner (Hg.), Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2006 (Metzler), 720 Seiten, 64,95 €

 

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