22. Oktober 2006

Das wiedergefundene Paradies

 

Ein Zug fährt ein in den Bahnhof. Ein Filmregisseur steigt heraus. Kameraleute hat er gleich dabei. Eine Belästigung in Form dummer Fragen ergibt sich um eine junge Frau herum. Man scheint sich zu kennen, aber die junge Frau hat keine Lust mitzuspielen. Diagnose: Fluchtneurose der jungen Frau; könnte gelingen, wenn ihr Typ, der Regisseur, nicht so wichtig wäre für ihre Zukunft. Ein Mann hat seine Frau verloren, zunächst an einen anderen, dann durch Selbstmord. Diagnose des Mannes: Depression, durchquert von einer intellektuellen Inszenierungsmanie. Die junge Frau, Jeanne (Maria Schneider), und der Mann, Paul (Marlon Brando), passen also wunderbar zusammen. Das merken sie auch, während sie in ihrer Höhle umeinander herumschnüffeln und übereinander herfallen. Die Höhle, Raum ohne Welt, ohne Erinnerung, nur zwei nackte Körper. Das ist die Vision von Paul. An nichts rühren, eine völlig selbstgenügsame amour fou, keine Geschichten erzählen, keine Namen nennen. Das ist auch eine Art, mit dem Godard’schen Problem mit den Vornamen umzugehen. Jeanne findet das nicht so toll, so viel kann sie ja auch gar nicht nicht erzählen, sie ist erst 21, Paul 46. Aber was will sie machen, bei ihrem Freund-Regisseur, der sie und den Zuschauer terrorisiert und für den man keinen angemesseneren Schauspieler hätte finden können als Jean-Pierre Léaud. Er ist als Schauspieler, was Him- und Brom- als Morpheme im Fruchtbereich: Hapax, Unikat, Muster seiner selbst. Auf Dauer der unangenehmste französische Schauspieler. Natürlich kann er dafür nichts. Aber die Zeit geht nicht in Richtung Marionette, oder sie entfernt sich von dieser Art. Aber auch im amour-fou-Bereich stehen die Zeichen nicht auf Drastik, Tragik, Provokation. Das lässt den Film am meisten alt aussehen. Er perlt an einem ab. Aus der Höhle hat man heute den entspannenden oder spannenden, auf jeden Fall gewohnheitsträchtigen 1-nightstand gemacht, niemand glaubt im Ernst noch an eine Liebesidylle am Rand des normalen Verkehrs. Die Dauerinszenierung macht es nicht mehr notwendig, das Fantasma auf einen kleinen Raum zu komprimieren. Die depressive Romantik ist lange vorbei. Oder anders gesagt, Romantik findet jetzt wirklich nur noch im eigenen Kopf statt, das Nicht-Ich deprimiert das Ich, und dieses idealisiert sich heraus durch Kommunikation. In der Höhle dagegen wird nicht gesprochen, das versucht jedenfalls der männliche dem weiblichen Körper auszutreiben. Und beim überraschenden Arschfick gelingt natürlich der überzeugendste Exorzismus. Das Leiden hier ist entweder zu priesterlich-diabolisch oder zu albern, man kann es nicht Ernst nehmen. Aber vielleicht liegt das Problem auch einfach darin, dass sich Bertolucci gerne an späte Dinge anhängt („Der letzte Kaiser“, „1900“), die von sich aus einen Manierismus herausfordern, der, wenn jene definitiv vorbei sind, nicht mehr zu goutieren ist. 1972 hat man noch – neorealistisch oder nicht – von Ausbeutung und Entfremdung gesprochen, kurze Zeit später hat dem die Postmoderne ein Ende gemacht, wofür ihr ja auch wirklich zu danken ist, und sie hat gleich als Manierismus angefangen; das macht es so schwer, mit ihr fertig zu werden.

 

Dieter Wenk (09.02)

 

Bernardo Bertolucci, Der letzte Tango in Paris (L’ultimo tango a Parigi, F/I 1972, Marlon Brando, Maria Schneider, Jean-Pierre Léaud