20. Oktober 2006

Bitte nach links abbiegen

 

Die vor ein paar Jahren feststellbare schlagartige Zunahme von Kulturwissenschaftlern, die nur kurze Zeit vorher noch Germanisten oder Anglisten hießen, verdankte sich unter anderem der modischen These des Kulturalismus, nach dem alles Kultur und wonach die Wertfrage eine bloße Funktion des Kontextualismus sei. Ein paar Schuhe sind genauso viel wert wie Shakespeare. Die KULTUR bringt das immer noch auf die Barrikaden, die aber leider in der Luft hängen, weil jene nichts mehr trägt. Die Postmodernen stört es nicht weiter, weil sie eh für Abwechslung sind (genauso wie das Kapital), und die Vertreter der kulturellen Identität müssen ständig das voraussetzen, was sie abschaffen wollen, weil sie keinen plausiblen Grund dafür angeben können, eher ein solcher als ein anderer zu sein, aber natürlich zuletzt doch nie mit jemand anderem verwechselt werden wollen. Wo also die Macht fehlt, oder der Grund, oder zuletzt die Berechtigung, Kultur einen hegemonialen Platz einzuräumen, ist das Geschrei groß, genau dies vorzutäuschen. Terry Eagleton fasst diese untereinander und gegeneinander geführten „Kulturkriege“ als Politisierungen der Kultur, aus denen letztere, was immer sie auch sei, sich möglichst bald lösen müsse, wolle sie nicht mit etwas, Politik, verwechselt werden, was systemisch einen anderen Platz beansprucht. Da es aber heute Kultur nicht in der Einzahl gibt und sie deshalb handlungsunfähig ist, schlägt der Autor interessanterweise vor, diesem Syndrom „Kultur“ einen Platzverweis zu erteilen – nämlich auf den „ihr gebührenden Platz“ – wofür man durchaus das Wort Privatheit einsetzen kann: Kultur als „Liebe, Beziehung, Erinnerung, Verwandtschaft, Heimat, Gemeinschaft, emotionale Erfüllung, geistiges Vergnügen, das Gefühl einer letzten Sinnhaftigkeit“. An einer anderen Stelle behauptet der Autor noch deutlicher, dass „Kultur an sich überhaupt nicht politisch“ sei, vielmehr ein Hort „unschuldiger Dinge“, die „aus dem einen oder anderen Grund in Kampfzonen geraten“. Aufgabe des 21. Jahrhunderts müsse es sein, angesichts der wirklichen Probleme wie Überbevölkerung oder Klimakatastrophe, also genuin politischen Aufgaben, die „Ausweitung der Kampfzone“ rückgängig zu machen. Es stellt sich dabei die Frage, wie eine Politik der Kultur eine solche Entpolitisierung der Kultur erreichen, wie sie der Kultur ihre „Unschuld“ wiedergeben kann. Angesichts einer solchen Entlastungsoperation fühlt man sich vielleicht an eine Situation erinnert, in der mit ganz ähnlichem Vokabular auf eine fehlgelaufene Entwicklung einer „Besetzung“ reagiert wurde. Das war jedenfalls der Blick Carl Schmitts auf die Weimarer Republik im Speziellen und auf die Demokratie im Besonderen: Diese züchte, so die Stelle in „Legalität und Legitimität“ von 1932, in sich selbst den „Totalen Staat“, was nichts anderes heiße, als dass in der Demokratie die Ursache „der totalen Politisierung des gesamten menschlichen Daseins zu suchen“ sei. Ziel müsse es sein, „die notwendigen Entpolitisierungen vorzunehmen und, aus dem totalen Staat heraus, wieder freie Sphären und Lebensgebiete zu gewinnen.“ Das Zurückdrängen der nach Schmitt parasitär verfassten „indirekten Mächte“, die für die Politisierung verantwortlich sind und alles versprechen, aber nichts halten können, vermag sich der Staatsrechtler Schmitt nur mittels einer „stabilen Autorität“ vorzustellen. Darum nun kann es ja bei der Emanzipation der Kultur von sich selbst in den Augen Eagletons natürlich nicht gehen. Fast könnte man aber sagen, dass sie im Banne mehrerer, oben erwähnter autoritärer Supplemente steht. Diese sind dann zwar in der Kultur selbst angelegt als Möglichkeiten, über Kultur zu sprechen und sie zu definieren, werden aber in dem Moment lästig, wo sie das gesamte Feld beherrschen wollen. Wenn Kultur sich aber aus diesem Dilemma selbst nicht befreien kann, weil es kein ursprüngliches kulturelles Selbstverhältnis gibt, das die Regeln vorgibt, wie die jeweiligen kulturellen Erscheinungsweisen zu behandeln sind, scheint es doch darauf hinauszulaufen, auf eine Autorität zu hören, die selbst nicht kulturell ist. Und diese Autorität ist nicht „stabil“ rechts, wie bei Schmitt, sondern geschlossen links. Eagleton schreibt: „Die Errichtung eines echten kulturellen Pluralismus setzt ein konzertiertes sozialistisches Handeln voraus.“ Es ist die Frage, ob man über diese Empfehlung wirklich glücklich sein kann. Denn ist es mal nicht wieder so, dass Eagleton gewissermaßen ein Stück Torte mit einem anderen Stück erstanden hat, was er aber auch nicht bezahlt hat. Anders gesagt, das Problem ist mal wieder nur verschoben, denn was man sich unter einem konzertierten sozialistischen Handeln vorzustellen hat, weiß ja eigentlich auch niemand mehr so richtig. Vielleicht ist Kultur ja nichts anderes als eine – verhuschte Autorität?

 

Dieter Wenk (08.02)

 

Terry Eagleton, Was ist Kultur?, aus dem Englischen von Holger Fliesbach, München 2001 (C.H. Beck)