16. Oktober 2006

Paraden nach dem Faux-pas

 

Paraden aus dem Tierreich können wir lustig finden, aber sie wirken nie lächerlich, auch wenn wir uns bei der Bloßstellung eines menschlichen Kollegen hin und wieder eines tierischen Vergleichs bedienen. Militärische Paraden sind immer lächerlich, aber wir können sie uns nicht von Kriegsgeräuschen orchestriert vorstellen. Die Lächerlichkeit von Paraden ist ja gerade ihre Reinheit, ihr Putz, dieses ganze Pompöse und Formierte, das die vorweggenommene andere Seite des abgeschreckten Ernstfalls ist. Noch unerträglicher als ein Fant wäre ein solcher mit einer süßen Melodie auf den Lippen und säuselnd „Oh, lass mich dich doch fihicken“. Etwas Seriosität also muss sein. In Kleists Novelle kommt es gleich zu mehreren Ernstfällen, Krieg, Plünderung, Vergewaltigung. Ein paar russische Soldaten fackeln nicht lange und wollen sich an der Marquise von O… vergehen. Graf F …, russischer Offizier, schreitet dazwischen und tut, was er tun muss. Die aus ihrer Ohnmacht erwachte Marquise dankt es später ihrem Retter, nachdem die italienische Zitadelle erobert und besetzt worden ist. Graf F … ist aber nicht nur ein militärischer Haudegen. Die ganze Familie um die Marquise, den Kommandanten, seine Frau und den Sohn, verwundert es, mit welchem Tempo und ohne Angabe überzeugender Gründe der russische Offizier um die Hand der Geretteten anhält. Er will sie sofort heiraten, weil er sonst erst nach Rückkehr von einer Mission dasselbe tun könnte. Ja, warum denn nicht, fragt sich die Familie, man muss sich doch wohl erst mal ein wenig miteinander bekannt machen, außerdem ist die Marquise Witwe und hat geschworen, sich nicht wieder zu verheiraten. Natürlich kann der Russe mit der entscheidenden Mitteilung nicht rausrücken, dass er nämlich die Marquise während ihrer Ohnmacht vergewaltigt und dabei geschwängert hat. Er hat die Ordnung der Dinge verkehrt und muss jetzt zusehen, dass ihm mit einem kurzen Streich, eben mit einer überzeugenden Parade vor der Familie, das gelingt, wozu man sonst eine ganze verliebte Weile unterwegs ist. Er führt seinen guten Ruf an, auch wenn er gleich zugibt, dass der Ruf, weil er nicht nur von einem selbst abhängt, das Zweideutigste auf der Welt sei, er empfiehlt sich durch seinen Reichtum, und er versteht wirklich zu blenden, aber da auch das zweideutig ist, lässt sich die Marquise und ihre Familie nicht auf das Heiratsbegehren des Grafen ein. Niemand ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass diese Parade schon die zweite vor der Marquise ist, denn die beiden haben sich bei ihrer ersten Begegnung unsterblich ineinander verliebt. Die Rettungsparade war gepaart mit einem Vollzug, den kein Ritter an den Anfang setzt. Dafür muss der Graf büßen, und die Buße heißt erst Ablehnung, dann Aufschub. Er bekommt die Möglichkeit zu einer dritten Parade (zwischen der ersten und der zweiten Heirat mit der Marquise), während der die beiden ersten gewissermaßen gegessen werden können. Die Heftigkeit der beiden ersten Paraden waren zwar wahr, aber nicht soziabel. Sie haben nicht lange genug gedauert, sie waren kindisch und die zweite trotz ihrer eifrigen Mitteilsamkeit letztlich sprachlos, infans, etwas konnte nicht gesagt werden. Aber so sind sie nun mal, die Engel, erst recht, wenn sie kurz Teufel waren.

 

Dieter Wenk (07.02)

 

Heinrich von Kleist, Die Marquise von O…, in: Kleists Werke in zwei Bänden, Berlin und Weimar 1980 (Aufbau)